Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona hat am 11.03.2021 beim Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-66/20 seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob eine Verwaltungsbehörde wie ein Finanzamt, die nach den nationalen Vorschriften befugt ist, in bestimmten Fällen die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrzunehmen, ohne Validierung durch eine Justizbehörde eine Europäische Ermittlungsanordnung erlassen darf.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 11.03.2021 ergibt sich:
Nach der Richtlinie 2014/41 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (Art. 2 Buchst. c) kann eine solche Anordnung von einem Richter oder einem Staatsanwalt getroffen und erlassen werden sowie von jeder anderen Behörde, die „in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren für die Anordnung der Erhebung von Beweismitteln zuständig ist“. Im letztgenannten Fall wird die von diesen „Ermittlungsbehörden“ ausgestellte Europäische Ermittlungsanordnung „von einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt … überprüft“ (Art. 2 Buchst. c Ziff. ii), d.h. von einer Behörde, die solche Anordnung von sich aus erlassen kann.
Die Staatsanwaltschaft Trient, bei der eine Europäische Ermittlungsanordnung des Finanzamts Münster zwecks Durchsuchung von Geschäftsräumen in einem Ermittlungsverfahren wegen Hinterziehung von Einkommensteuern eingegangen ist, ist der Ansicht, dass diese Anordnung der Validierung durch eine deutsche Justizbehörde bedarf, da das Finanzamt eine Verwaltungsbehörde sei. Das Finanzamt macht hingegen geltend, dass es in Verfahren wegen Steuerstraftaten die Funktionen der Staatsanwaltschaft bekleide und daher im Sinne selbst als Justizbehörde angesehen werden müsse. Die Staatsanwaltschaft Trient hat den Gerichtshof daher um Auslegung der Richtlinie ersucht.
In seinen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona dem Gerichtshof vor, der Staatsanwaltschaft Trient wie folgt zu antworten:
Art. 2 Buchst. c Ziff. ii der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die im Bereich der Besteuerung zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden, selbst wenn sie zu Ermittlungen in bestimmten Strafverfahren befugt sind, von der Pflicht zu entbinden, vor der Übermittlung einer Europäischen Ermittlungsanordnung an die Vollstreckungsbehörde deren Validierung durch einen Richter, ein Gericht, einen Staatsanwalt oder einen Ermittlungsrichter im Anordnungsstaat einzuholen.
Sinn und Zweck von Art. 2 der Richtlinie 2014/41 sei, dass Verwaltungsbehörden, unabhängig von den ihnen nach nationalen Vorschriften zustehenden Befugnissen, die Validierung durch die Justizbehörden (einschließlich der Staatsanwaltschaft) einholten, bevor sie eine Europäische Ermittlungsanordnung übermittelten. Dieser Sinn und Zweck ginge verloren, wenn die Mitgliedstaaten den zur Exekutive zählenden Behörden ohne Weiteres – durch Gleichsetzung der Verwaltungsbehörden mit den Justizbehörden – gestatten könnten, eine solche Anordnung zu übermitteln, die nicht von den Justizbehörden (einschließlich der Staatsanwaltschaft) validiert worden sei.
Außerdem: Obwohl das Finanzamt im Einzelfall Ermittlungsaufgaben wahrnehme, die mit denen der Staatsanwaltschaft vergleichbar seien, sei es weiterhin als Verwaltungsorgan anzusehen und als solches strukturell und funktionell der Verwaltungshierarchie unterworfen und verfüge es insbesondere nicht über die unabdingbare Kompetenz, um die von der Richtlinie geforderte Beurteilung der Erforderlichkeit und der gegeneinander abzuwägenden Interessen vorzunehmen. Diese Beurteilung gehe über das Partikularinteresse der Steuerverwaltung hinaus und schließe das allgemeine Interesse des Staates als Ganzes und die Garantie der Grundrechte der Bürger mit ein.
Was die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens anbelangt, so vertritt Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona die Ansicht, dass die Staatsanwaltschaft Trient befugt ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Nach ihren Angaben und denen der italienischen Regierung könne ihre etwaige Entscheidung, die für die Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnung erforderliche Anerkennung zu verweigern, nämlich nicht gerichtlich angefochten werden. Worauf es im Rahmen des Art. 267 AEUV ankomme, sei, dass diejenigen, die nach den nationalen Vorschriften das letzte Wort hätten, Zugang zum Gerichtshof erhielten, wenn es um die Auslegung von Unionsvorschriften gehe. Andernfalls entstünde bei der Auslegung des Unionsrechts ein blinder Fleck.