Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona hatte die Frage zu beantworten, ob die im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl ergangene EuGH-Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft auf die Europäische Ermittlungsanordnung übertragen werden kann.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 16.07.2020 ergibt sich:
Die Staatsanwaltschaft Hamburg führt ein Ermittlungsverfahren gegen A und weitere unbekannte Täter, in dessen Rahmen sie zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zur Ermittlung der Täter, gemäß der Richtlinie 2014/41 eine Europäische Ermittlungsanordnung an die Staatsanwaltschaft Wien übermittelte. Sie ersuchte um Übermittlung diverser Kontounterlagen betreffend ein österreichisches Konto. Die Staatsanwaltschaft Wien beantragte beim Landesgericht für Strafsachen Wien die Bewilligung der Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte mit dem Ziel, die Bank zur Herausgabe der Kontounterlagen zu verpflichten.
Im Rahmen der Prüfung der Frage, ob diese Bewilligung zu erteilen ist, weist dieses Gericht darauf hin, dass die deutsche Staatsanwaltschaft, weil sie der Gefahr ausgesetzt sei, unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden, nach der Rechtsprechung des EuGH nicht als Anordnungsbehörde für einen Europäischen Haftbefehl angesehen werden könne. Dieses Ergebnis lasse sich auf die von der Staatsanwaltschaft Hamburg erlassene Europäische Ermittlungsanordnung übertragen, die deshalb abgelehnt werden könnte. Zwar nenne die Richtlinie 2014/41 über die Europäische Ermittlungsanordnung den Staatsanwalt als Anordnungsbehörde, aber nicht alle Staatsanwaltschaften der Mitgliedstaaten erfüllten das für Gerichte geltende Erfordernis der Unabhängigkeit. Gälte die Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl für die Europäische Ermittlungsanordnung, wäre der Begriff „Staatsanwalt“ im Sinne der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen, dass Staatsanwaltschaften, die – wie die Staatsanwaltschaft Hamburg – der Gefahr ausgesetzt seien, Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden, nicht darunter fielen. Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat den EuGH dazu befragt.
Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona ist in seinen Schlussanträgen vom 16.07.2020 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Richtlinie 2014/41 über die Europäische Ermittlungsanordnung eine umfassende Regelung der Beziehungen zwischen den Behörden, die eine Europäische Ermittlungsanordnung anordnen, und den Behörden, die sie vollstrecken, enthält. Diese Regelung achte jederzeit die Grundrechte und die übrigen Verfahrensrechte der verdächtigen oder beschuldigten Person. Neben der dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegenden Vermutung biete das System der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in diesem Bereich ausreichende Garantien für den Schutz der Rechte dieser Personen. Dieser Regelungsrahmen sei weit genug, um die Staatsanwaltschaften sämtlicher Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer institutionellen Stellung gegenüber der Exekutive als Anordnungsbehörde zu erfassen. Die Vollstreckungsbehörde müsse im Einzelfall prüfen, ob bei der beantragten Europäischen Ermittlungsanordnung die Voraussetzungen für ihre Vollstreckung vorliegen. Die Richtlinie 2014/41 sehe geeignete Rechtsbehelfe gegen ihre Entscheidung vor.
Dass die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden könne, reiche somit nicht aus, um die Vollstreckung von ihr angeordneter Europäischen Ermittlungsanordnung systematisch ablehnen zu können. Im Gegenteil:
– Jede Vollstreckungsbehörde müsste sich vergewissern, dass die anordnende Staatsanwaltschaft an solche Weisungen nicht gebunden ist. Dies würde voraussichtlich zu erheblicher Rechtsunsicherheit und zu Verzögerungen in Ermittlungsverfahren mit grenzüberschreitender Dimension und damit zu einer Erschwerung „einer raschen, effektiven und kohärenten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Strafsachen“ führen.
– Es käme zu einer verdeckten Änderung der Richtlinie 2014/41, indem die Staatsanwaltschaften bestimmter Länder von Art. 2 Buchst. c Ziff. i ausgenommen und unter Buchst. c Ziff. ii gefasst würden. Dies würde bedeuten, dass sie auch nicht die Entscheidungen anderer Verwaltungsbehörden, die Europäische Ermittlungsanordnung ausstellen, validieren könnten.
– Die Verteilung der Zuständigkeiten der Anordnungsbehörden in den Mitgliedstaaten müsste neu definiert werden, was auf eine Verzerrung des Willens des Unionsgesetzgebers hinauslaufen würde, der die beim Erlass der Richtlinie 2014/41 geltenden institutionellen und verfahrensrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten nicht ändern, sondern achten wollte.
Der Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona hat daher dem EuGH vorgeschlagen, dem Landesgericht für Strafsachen Wien wie folgt zu antworten:
Die Staatsanwaltschaften derjenigen Mitgliedstaaten, die dies so vorgesehen haben, können als justizielle Anordnungsbehörden i.S.v. Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 03.04.2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen angesehen werden.