Nach Auffassung von Generalanwalt Gerard Hogan im Verfahren C-124/20 vor dem Europäischen Gerichtshof können sich iranische Unternehmen vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf EU-Recht berufen, das sich gegen US-amerikanische Sekundärsanktionen richtet.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 78/2021 vom 12.05.2021 ergibt sich:
Die Entscheidung eines Unternehmens aus der Europäischen Union, eine Vertragsbeziehung zu einem iranischen Unternehmen zu beenden, das US-amerikanischen Primärsanktionen unterliegt, sollte für nichtig erachtet werden, wenn sie sich nicht aus anderen Gründen rechtfertigen lässt als dem Bestreben, US-amerikanischen Rechtsvorschriften nachzukommen, die Sekundärsanktionen im Hinblick auf nicht US-amerikanische Unternehmen vorsehen, die Geschäftsbeziehungen zu solchen iranischen Unternehmen unterhalten; insoweit gilt die Blocking-Verordnung der Europäischen Union.
Bank Melli Iran ist eine iranische Bank mit einer Niederlassung in Hamburg (Deutschland) und macht in Deutschland vor Gericht geltend, dass die ordentliche Kündigung, mit der das deutsche Telekommunikationsunternehmen Telekom Deutschland die Verträge von Bank Melli Iran über Telekommunikationsdienstleistungen gekündigt habe, unwirksam sei. Die von Telekom Deutschland bereitgestellten Dienstleistungen bilden die ausschließliche Grundlage der internen und externen Kommunikationsstrukturen von Bank Melli Iran in Deutschland und sind daher für deren Geschäftstätigkeit unerlässlich.
Der Bank zufolge beruhte die Kündigung allein auf dem Bestreben von Telekom Deutschland, US-amerikanischen Rechtsvorschriften nachzukommen, die es nicht US-amerikanischen Unternehmen verbieten, Geschäftsbeziehungen zu iranischen Unternehmen, die US-amerikanischen Primärsanktionen unterliegen, zu unterhalten und die bei Verstößen Sekundärsanktionen gegen solche nicht US-amerikanische Unternehmen vorsehen. Bank Melli Iran ist in die Liste der besonders benannten Staatsangehörigen und gesperrten Personen aufgenommen worden, die vom Office of Foreign Assets Control (Amt zur Kontrolle von Auslandsvermögen) geführt wird und auf die in mehreren der US-amerikanischen Rechtsakte Bezug genommen wird, die im Anhang der Blocking-Verordnung der Europäischen Union erwähnt werden.
Diese Rechtsvorschriften wurden wieder zur Anwendung gebracht, nachdem der (damalige) US-Präsident Donald Trump im Jahr 2018 die Entscheidung zum Rückzug aus dem Atomabkommen mit dem Iran getroffen hatte (gemeinsamer umfassender Aktionsplan, der am 14. Juli 2015 von den fünf Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates – den Vereinigten Staaten von Amerika, Rußland, China, dem Vereinigten Königreich und Frankreich – zusammen mit Deutschland und der Europäischen Union auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen Seite in Wien unterzeichnet wurde. Sein Ziel bestand darin, das Atomprogramm des Iran zu kontrollieren und gegen ihn gerichtete Wirtschaftssanktionen aufzuheben). In diesem Verfahren trägt Bank Melli Iran vor, dass Telekom Deutschland gegen die Blocking-Verordnung (EG) Nr. 2271/96 der Europäischen Union (ABl. 1996, L 309, S. 1 in der zuletzt durch die Delegierte Verordnung (EU) 2018/1100 der Kommission vom 6. Juni 2018 zur Änderung des Anhangs der Verordnung (EG) Nr. 2271/96 des Rates zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen – ABl. 2018, L 199, S. 1 geänderten Fassung) verstoßen habe, die es Unternehmen aus der Europäischen Union verbiete, derartigen extraterritorialen Maßnahmen der Vereinigten Staaten Folge zu leisten.
Telekom Deutschland gehört zum Konzern der Deutschen Telekom, der ungefähr 50% seines Umsatzes in den Vereinigten Staaten von Amerika erwirtschaftet, und trägt vor, dass die Blocking-Verordnung der Europäischen Union nicht ihr Recht berühre, die ordentliche Kündigung eines solchen Vertrages ohne Angabe von Gründen zu erklären. Nach der genannten Verordnung stehe es ihr frei, ihre Geschäftsbeziehung zu Bank Melli Iran jederzeit zu beenden; auf ihre der Kündigung zugrunde liegenden Motive komme es nicht an.
Derzeit ist das Verfahren von Bank Melli Iran vor dem OLG Hamburg anhängig. Dieses Gericht ersucht den Gerichtshof darum, den Anwendungsbereich der Blocking-Verordnung der Europäischen Union (insb. ihres Art. 5 Abs. 1) klarzustellen, mit der innerhalb der Europäischen Union das Eindringen extraterritorialer Auswirkungen US-amerikanischer Sanktionen unterbunden werden sollte und somit europäische Unternehmen sowie indirekt die nationale Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten vor völkerrechtswidrigen US-amerikanischen Rechtsvorschriften geschützt werden sollten.
In seinen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Hogan eingangs fest, dass sich Unternehmen aus der Europäischen Union mit unlösbaren – und durchaus ungerechten – Dilemmata konfrontiert sähen, die sich aus der Anwendung zweier verschiedener und miteinander in unmittelbarem Widerspruch stehender rechtlicher Regelungen ergäben. Gleichwohl ist er der Auffassung, dass jedwede Überprüfung der derzeitigen Funktionsweise der genannten Verordnung nicht Sache des Gerichtshofs, sondern vielmehr Sache des Unionsgesetzgebers sei.
Der Generalanwalt ist erstens der Ansicht, dass das in der Blocking-Verordnung der Europäischen Union enthaltene und Unternehmen aus der Europäischen Union (oder bestimmte andere natürliche oder juristische Personen, auf die die Blocking-Verordnung der Europäischen Union Anwendung finde. Aus Einfachheitsgründen wird hier nur auf Unternehmen aus der Europäischen Union Bezug genommen) treffende allgemeine Verbot, das sich dagegen richte, dass bestimmten, Sekundärsanktionen vorsehenden Rechtsvorschriften aus Drittländern nachgekommen werde, selbst dann Anwendung finde, wenn ein derartiges Unternehmen den genannten Rechtsvorschriften nachkomme, ohne hierzu vorher durch eine ausländische Stelle der Verwaltung oder der Justiz verpflichtet worden zu sein. Dies ergebe sich aus Wortlaut, Ziel und Zusammenhang des Verbotes.
Zweitens müsse ein Unternehmen aus der Europäischen Union, das einen ansonsten wirksamen Vertrag mit einem iranischen Vertragspartner, der US-amerikanischen Sanktionen unterliege, habe beenden wollen, zur Überzeugung des nationalen Gerichts dartun, dass es dabei nicht in dem Bestreben gehandelt habe, diesen Sanktionen nachzukommen.
Obwohl die Blocking-Verordnung der Europäischen Union nicht den Schutz von direkt von den US-amerikanischen Maßnahmen betroffenen Unternehmen aus Drittstaaten bezwecke, eröffne sie solchen Unternehmen, wie etwa Bank Melli Iran, ein Klagerecht. Würde ein derartiges Recht nicht anerkannt, liefe dies im Ergebnis darauf hinaus, dass die Durchsetzung der in der genannten Blocking-Verordnung zum Ausdruck kommenden politischen Entscheidung nur von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten und indirekt derjenigen der Kommission abhinge. Dies würde wiederum bedeuten, dass in bestimmten Mitgliedstaaten, die die genannte Verordnung nur widerstrebend durchsetzten, beispielsweise ein großer Wirtschaftsteilnehmer wie Telekom Deutschland sich dafür entscheiden könnte, der US-amerikanischen Sanktionsregelung aktiv nachzukommen, indem er den Vertrag mit Bank Melli Iran beende. Diesem Beispiel würden sicherlich andere folgen, und die gesamte, hinter der Blocking-Verordnung der Europäischen Union stehende Entscheidung der öffentlichen Ordnung könnte schnell dadurch untergraben werden, dass viele europäische Unternehmen sich stillschweigend dafür entschieden, diesen Sanktionen (auch indirekt) nachzukommen.
Aus im Wesentlichen den gleichen Gründen müsse die genannte Blocking-Verordnung so verstanden werden, dass sie dazu verpflichte, Gründe anzugeben, die die Beendigung einer Handelsbeziehung zu einer Person rechtfertigten, die Primärsanktionen unterliege. Andernfalls könnte ein Unternehmen sich stillschweigend dafür entscheiden, den US-amerikanischen Sanktionsvorschriften zu entsprechen, und infolge seines dies verschleiernden Stillschweigens, das seine Motive unergründbar und seine Methoden (letztlich) unüberprüfbar werden lasse, würden die wesentlichen politischen Ziele der genannten Verordnung gefährdet und inhaltsleer, wie dies im vorliegenden Fall geschehen zu sein scheine.
In Anbetracht dessen, dass Bank Melli Iran und Telekom Deutschland bereits eine Geschäftsverbindung unterhalten und ihre jeweiligen Geschäftstätigkeiten beide nicht geändert hätten, obliege es Telekom Deutschland, zu belegen, dass es einen anderen objektiven Grund als den Umstand, dass Bank Melli Iran Primärsanktionen unterliege, dafür gegeben habe, die in Rede stehenden Verträge zu kündigen; es sei indessen Sache des Hanseatischen Oberlandesgerichts, diese Gründe auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Es komme maßgeblich auf die Absicht des Wirtschaftsteilnehmers an, den genannten Sanktionen nachzukommen, unabhängig davon, ob er von ihrer Anwendung tatsächlich betroffen sei.
Wirtschaftsteilnehmer könnten allerdings insofern insbesondere dartun, dass sie aktiv eine kohärente und systematische Unternehmenspolitik der sozialen Verantwortung verfolgten, aufgrund deren sie u. a. Geschäfte mit jeglichem Unternehmen ablehnten, das Verbindungen zum iranischen Regime habe.
Drittens müsse das nationale Gericht, das vom US-amerikanischen Primärsanktionen unterliegenden Vertragspartner eines Unternehmens aus der Europäischen Union angerufen werde – falls das letztgenannte Unternehmen aus der Europäischen Union dem in deren Blocking-Verordnung enthaltenen Verbot zuwiderhandele, US-amerikanischen Rechtsvorschriften nachzukommen, die Sekundärsanktionen vorsähen – dem Unternehmen aus der Europäischen Union auferlegen, ihr Vertragsverhältnis aufrechtzuerhalten.
Nach Auffassung des Generalanwalts verstößt das fragliche Verbot als solches nicht gegen die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete unternehmerische Freiheit, da Wirtschaftsteilnehmer bei der Kommission insbesondere um eine Ausnahmegenehmigung nachsuchen könnten.