Schlussanträge zum Festnahmeersuchen über Interpol: Verbot der Doppelbestrafung

20. November 2020 -

Generalanwalt Michal Bobek vertritt die Ansicht, dass das im Schengen-Raum geltende Verbot der Doppelbestrafung auch eine Auslieferung an einen Drittstaat ausschließen kann.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 143/2020 vom 19.11.2020 ergibt sich:

Dieses Verbot schließe gegebenenfalls nicht nur jede spätere Strafverfolgung in anderen Mitgliedstaaten, sondern auch die vorübergehende Festnahme in den anderen Mitgliedstaaten aufgrund einer von Interpol ausgestellten Red Notice zum Zweck einer möglichen künftigen Auslieferung an einen Drittstaat aus, so der Generalanwalt.

Ein deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland erhob beim VG Wiesbaden Klage und beantragte, Deutschland zu verpflichten, die notwendigen Maßnahmen zur Löschung einer Red Notice zu ergreifen, die von Interpol mit dem Ziel ausgestellt wurde, zu Zwecken der Auslieferung seinen Aufenthaltsort zu ermitteln, ihn festzunehmen oder seine Bewegungsfreiheit einzuschränken. Red Notices werden gegen Personen ausgestellt, nach denen entweder zur Strafverfolgung oder zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe gesucht wird. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Ersuchen an Strafverfolgungsbehörden weltweit, den Aufenthaltsort gesuchter Personen zu ermitteln und, soweit möglich, ihre Bewegungsfreiheit bis zum Ergehen eines Auslieferungsersuchens (das gesondert gestellt werden muss) vorläufig einzuschränken. Die Red Notice wurde auf einen Haftbefehl der Behörden der Vereinigten Staaten gestützt, der wegen Vorwürfen der Korruption, der Geldwäsche und des Betrugs erlassen worden war. Der Betroffene brachte vor, er könne in keinen Schengen-Staat reisen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Diese Staaten hätten ihn nämlich wegen der Red Notice auf ihre Fahndungslisten gesetzt. Diese Situation verstoße gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem, der eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur verbietet), da eine deutsche Staatsanwaltschaft bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen derselben Taten eingeleitet habe. Dieses Verfahren wurde endgültig eingestellt, nachdem er einen bestimmten Geldbetrag gezahlt hatte. Zudem verstoße die Weiterverarbeitung seiner in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten durch die Behörden der Mitgliedstaaten gegen Unionsrecht.  Die fragliche Red Notice wurde zwischenzeitlich von Interpol gelöscht. Der betroffene Staatsangehörige beantragt bei dem VG Wiesbaden nunmehr, Deutschland zu verpflichten, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Interpol eine neue Red Notice wegen derselben Taten erlässt. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht vom EuGH wissen, ob es den Mitgliedstaaten, wenn auf Ersuchen eines Drittstaats von Interpol eine Red Notice ausgestellt wird und diese Taten zum Gegenstand hat, für die möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt, nach dem Unionsrecht verwehrt ist, i) diese Notice umzusetzen, indem sie die Freizügigkeit der gesuchten Person einschränken, und ii) deren in der Notice enthaltene personenbezogene Daten weiterzuverarbeiten.

Generalanwalt Michal Bobek hat in seinen Schlussanträgen zunächst vorgeschlagen, zu antworten, dass es den Mitgliedstaaten nach dem im Schengen-Raum (Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen – im Folgenden: SDÜ – ABl. 2000, L 239, 19) geltenden und durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 50) zu einem Grundrecht erhobenen Grundsatz ne bis in idem in Verbindung mit dem Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) verwehrt sei, eine von Interpol auf Ersuchen eines Drittstaats ausgestellte Red Notice umzusetzen und damit die Freizügigkeit einer Person einzuschränken, wenn eine rechtskräftige Entscheidung der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats über die tatsächliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für die konkreten Vorwürfe, derentwegen diese Notice ausgestellt worden sei, ergangen sei.

Nach Auffassung des Generalanwalts fällt eine Entscheidung, mit der eine Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zuständigen Gerichts das Strafverfahren endgültig einstelle mit der Folge, dass nach Erfüllung bestimmter Auflagen durch den Beschuldigten jede weitere Strafverfolgung nach nationalem Recht ausgeschlossen sei, in den Anwendungsbereich des im Schengen-Raum geltenden Grundsatzes ne bis in idem.

Der Grundsatz ne bis in idem vebiete gegebenenfalls nicht nur jede spätere Strafverfolgung in anderen Mitgliedstaaten, sondern auch die vorübergehende Festnahme in den anderen Mitgliedstaaten zum Zweck einer möglichen künftigen Auslieferung an einen Drittstaat ausschließe. Ein Rechtsraum heiße nämlich ein Rechtsraum, sowohl nach innen als auch nach außen. Personen, die nach Strafverfolgung rechtskräftig abgeurteilt worden seien, müsse ihr Bürgerfrieden gewährt werden. Sie müssten von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Taten in einem und nicht nur durch einen anderen Schengen-Staat befürchten zu müssen. Einer Person, die zum Zweck ihrer Auslieferung verhaftet oder vorübergehend festgenommen werde, obwohl sie sich auf den Grundsatz ne bis in idem berufen könne, werde ihr Bürgerfrieden nicht gewährt oder könnte nicht innerhalb der Union von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen.

Im Hinblick auf den vorliegenden Fall führt der Generalanwalt jedoch aus, dass über die Frage, ob die beiden in Rede stehenden Verfahren tatsächlich dieselbe Tat betreffen, von den zuständigen Behörden Deutschlands oder eines anderen Mitgliedstaats der Union offenbar (noch) nicht, geschweige denn rechtskräftig, entschieden worden sei. Folglich gebe es, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, keine Entscheidung, die andere Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als ihren eigenen Entscheidungen gleichgestellt anerkennen und akzeptieren könnten und sollten. Unter diesen Umständen dürften seines Erachtens andere Mitgliedstaaten als Deutschland nicht daran gehindert sein, eine von Interpol gegen den betreffenden deutschen Staatsangehörigen ausgestellte Red Notice umzusetzen. Bloße Bedenken, die von den Polizeibehörden eines Mitgliedstaats dahin geäußert würden, dass der Grundsatz ne bis in idem anwendbar sein könnte, könnten mit einer rechtskräftigen Entscheidung, dass dieser Grundsatz tatsächlich anwendbar sei, nicht gleichgesetzt werden.

Was die Frage des Datenschutzes anbelangt, schlägt Generalanwalt Bobek vor, zu antworten, dass das Unionsrecht (Richtlinie (EU) 2016/680 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016, L 119, 89) i.V.m. Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta der Weiterverarbeitung personenbezogener Daten, die in einer von Interpol ausgestellten Red Notice enthalten seien, nicht entgegenstehe, auch wenn für die Vorwürfe, derentwegen die Notice ausgestellt worden sei, der Grundsatz ne bis in idem gelten sollte, sofern die Verarbeitung nach den geltenden Datenschutzregelungen erfolge.

Der Umstand, dass eine Einzelperson den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem für die Vorwürfe genieße könne, derentwegen eine Red Notice ausgestellt worden sei, führe nicht dazu, dass die in dieser Notice enthaltenen Daten unrechtmäßig übermittelt worden seien. Der Grundsatz ne bis in idem könne die Richtigkeit und Genauigkeit von Daten wie beispielsweise der personenbezogenen Informationen, des Umstands, dass diese Person in einem Drittstaat wegen des Vorwurfs oder eines Schuldspruchs wegen bestimmter Straftaten gesucht werde und dass gegen sie in diesem Staat ein Haftbefehl erlassen worden sei, nicht in Frage stellen. Auch die ursprüngliche Übermittlung dieser Daten sei nicht unrechtmäßig gewesen. Aus der Geltung des Grundsatzes ne bis in idem ergebe sich daher für die betroffene Person nicht das Recht, die Löschung ihrer personenbezogenen Daten zu verlangen.

Eine Weiterverarbeitung personenbezogener Daten sei nicht nur rechtmäßig, sondern aufgrund des Zwecks der Verarbeitung sogar erforderlich. Eine Abfrage, Anpassung, Offenlegung oder Verbreitung könne somit gerade auch im Interesse der Person, gegen die die Red Notice ausgestellt worden sei, erforderlich sein, um eine Situation zu vermeiden, in der diese Person zu Unrecht strafrechtlichen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten ausgesetzt sei, oder, falls solche Maßnahmen ergriffen worden seien, um eine rasche Aufhebung dieser Maßnahmen zu gewährleisten.