Der Generalanwalt Hogan hat vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-94/20 seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob bei langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ein Anspruch auf Wohnbeihilfe von einem bestimmten Nachweis von Deutschkenntnissen abhängig gemacht werden darf.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 02.03.2021 ergibt sich:
Das Landesgericht Linz ersucht den Gerichtshof um Klärung, ob bei langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ein Anspruch auf Wohnbeihilfe von einem bestimmten Nachweis von Deutschkenntnissen abhängig gemacht werden darf. Es hat über den Fall eines langfristig aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu entscheiden, der beanstandet, dass er seit 2018 keine Wohnbeihilfe mehr erhält. Ab diesem Zeitpunkt verlangte das Land Oberösterreich nämlich von Drittstaatsangehörigen anders als bei EU- oder EWR-Bürgern einen bestimmten Nachweis grundlegender Deutschkenntnisse. Der Betroffene beherrscht Deutsch auf dem geforderten Niveau (A2), verfügt aber über keinen entsprechenden Nachweis. In seinen Schlussanträgen von heute schlägt Generalanwalt Hogan dem Gerichtshof vor, dem Landesgericht Linz wie folgt zu antworten:
Der Anspruch der in einem Mitgliedstaat langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, gleichberechtigt u. a. mit den Angehörigen dieses Mitgliedstaats Zugang zu angemessenem Wohnraum zu erhalten, den sie sich sonst nur unter Verzicht auf andere Grundbedürfnisse leisten könnten, ist der Schlüssel zur Sicherstellung ihrer weiteren wirtschaftlichen und sozialen Integration.
Eine Leistung, mit der der Zugang der in einem Mitgliedstaat langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen zu angemessenem Wohnraum sichergestellt werden soll, ist daher als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen anzusehen.
Art. 11 der Richtlinie 2003/109 ist deshalb dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie § 6 Abs. 9 und 11 des Oberösterreichischen Wohnbauförderungsgesetzes entgegensteht, die es Unionsbürgern, Angehörigen eines EWR-Staats und Familienangehörigen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ermöglichen, eine Sozialleistung in Form der Wohnbeihilfe ohne Nachweis von Sprachkenntnissen in Anspruch zu nehmen, während langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige im Sinne der Richtlinie 2003/109 einen bestimmten förmlichen Nachweis grundlegender Kenntnisse der deutschen Sprache erbringen müssen.
Nach der Richtlinie 2003/109 sind die Mitgliedstaaten gehalten, langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige in Bezug auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinne des nationalen Rechts wie eigene Staatsangehörige zu behandeln (Art. 11 Abs. 1 Buchst. d). Allerdings können die Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die „Kernleistungen“ beschränken (Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie).
Die im oberösterreichischen Wohnbauförderungsgesetz (in der vorliegend maßgeblichen Fassung) vorgesehene Wohnbeihilfe ist vom Einkommen, von der Zahl der Haushaltsangehörigen und der Wohnungsgröße abhängig und auf 300 Euro begrenzt. Sie zielt also als solche nicht darauf ab, Personen ein Existenzminimum (einschließlich ihres Wohnbedarfs) zu garantieren, sondern soll gewährleisten, dass eine angemessene Wohnung auch für Haushalte mit geringem Einkommen erschwinglich(er) ist.
Nach Ansicht von Generalanwalt Bobek ist eine solche Wohnbeihilfe als Kernleistung (im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109) anzusehen, mit der Folge, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung gegen die Richtlinie verstoße.