Generalanwalt Bobek hat am 23.09.2021 vor dem Europäischen Gerichtshof zum Verfahren C-205/20 seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern unmittelbare Wirkung hat und gegebenenfalls welche Folgen sich daraus ergeben.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 23.09.2021 ergibt sich:
In einer Reihe früherer Entscheidungen, beginnend mit dem Urteil Maksimovic (C-64/18), hat der Gerichtshof verschiedene Teile des österreichischen Systems für die Sanktionierung von Zuwiderhandlungen – im Wesentlichen die Verletzung administrativer Pflichten bezüglich bestimmter Unterlagen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern – für unverhältnismäßig befunden.
Insbesondere hat der Gerichtshof auf ein früheres Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark hin und gestützt auf das Urteil Maksimovic mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 (Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld, C- 645/18) Art. 20 („Sanktionen“) der Richtlinie 2014/67 (zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71 über die Entsendung von Arbeitnehmern) dahin ausgelegt, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Meldung von Arbeitnehmern und die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung hoher Geldstrafen vorsieht, die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen, die je betroffenem Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden und zu denen im Fall der Abweisung einer gegen das Straferkenntnis erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt.
Allerdings ist der österreichische Gesetzgeber nach diesen Entscheidungen des Gerichtshofs nicht tätig geworden, so dass die in Rede stehenden österreichischen Vorschriften weiterhin in Kraft sind. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark ist unsicher, wie es sich unter diesen Umständen verhalten soll. Es nimmt Bezug auf die unlängst ergangene Entscheidung in der Rechtssache Link Logistik (C-384/17), in der der Gerichtshof für eine fast gleichlautende Unionsvorschrift unmittelbare Wirkung verneint und eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts als ausgeschlossen angesehen hat. Im Weiteren hat der Gerichtshof jedoch daran erinnert, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen. Vor diesem Hintergrund möchte das Landesverwaltungsgericht wissen, ob Art. 20 der Richtlinie 2014/67 oder, genauer gesagt, das darin niedergelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unmittelbare Wirkung hat und ggfs. welche Folgen sich im vorliegenden Fall dadurch ergeben.
Generalanwalt Bobek schlägt in seinen Schlussanträgen vom 23.09.2021 dem Gerichtshof vor, dem Landesverwaltungsgericht Steiermark wie folgt zu antworten:
- Das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt Informationssystems festgelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen hat unmittelbare Wirkung.
- Auf der Grundlage des in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 festgelegten Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen müssen die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden aufgrund ihrer Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung dieser Bestimmung zu gewährleisten, jede nationale Bestimmung unangewendet lassen, soweit deren Anwendung zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, und erforderlichenfalls die anwendbaren innerstaatlichen Vorschriften um die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien des Verhältnismäßigkeitserfordernisses ergänzen.
Nach Ansicht des Generalanwalts sollte die Link-Logistik-Rechtsprechung von der Großen Kammer des Gerichtshofs ausdrücklich und offen aufgegeben werden.
Was die Folgen der unmittelbaren Wirkung anbelangt, so hält Generalanwalt Bobek die Lösung für pragmatisch und zugleich sehr elegant, die der österreichische Verwaltungsgerichtshof im Rahmen eines ähnlichen Falls und nach der Verkündung des Urteils Maksimovic gefunden habe.
Mit nur einem Federstrich habe der Verwaltungsgerichtshof mehrere Aspekte der einschlägigen nationalen Vorschriften unangewendet gelassen. Mit dieser Lösung werde eine Höchstgrenze eingeführt, aber zugleich eine Bandbreite eröffnet, innerhalb deren Sanktionen zulässig seien. Außerdem entfielen der Mindestbetrag sowie die Möglichkeit der Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe im Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe. Damit habe der Verwaltungsgerichtshof verschiedene Elemente der österreichischen Sanktionsregelung unangewendet gelassen, jedoch dafür gesorgt, dass bis zur Änderung der einschlägigen Rechtsvorschriften durch den Gesetzgeber weiterhin Sanktionen verhängt werden könnten.