Der Generalanwalt Evgeni Tanchev ist im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-824/18 der Ansicht, dass das polnische Gesetz, das eingeführt wurde, um die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Beurteilung von Richterkandidaten für das Oberste Gericht durch den Landesjustizrat auszuschließen, gegen EU-Recht verstößt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 171/2020 vom 17.12.2020 ergibt sich:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV könne vom vorlegenden Gericht unmittelbar angewandt werden, um diese nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und sich selbst für zuständig zu erklären, um in den Rechtssachen auf der Grundlage des vor dem Erlass dieses Gesetzes geltenden rechtlichen Rahmens zu entscheiden, so der Generalanwalt.
Im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Richteramtskandidaten A.B., C.D., E.F., G.H. und I.J. einerseits und der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, im Folgenden: KRS) andererseits, in dem diese Kandidaten Entschließungen angefochten haben, in denen die KRS i) entschieden hat, dem Präsidenten der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) ihre Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) nicht vorzuschlagen, und gleichzeitig ii) dem Präsidenten der Republik die Ernennung anderer Kandidaten vorgeschlagen hat, hat das Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) den EuGH angerufen.
Durch das polnische Gesetz vom 26.04.2019 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und des Gesetzes über das System der Verwaltungsgerichte, das am 23.05.2019 in Kraft getreten ist) wurde eine Bestimmung des Gesetzes über den Landesjustizrat geändert, die nunmehr wie folgt lautet: „In Individualverfahren betreffend die Ernennung zum Richter am Obersten Gericht ist keine Beschwerde gegeben.“ Das Gesetz bestimmt ferner, dass „Verfahren betreffend Beschwerden gegen Beschlüsse [der KRS] in Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am Obersten Gericht zum Gegenstand haben und die vor dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes eingeleitet und nicht beendet wurden,… von Rechts wegen eingestellt [werden]“.
Der Generalanwalt Tanchev ist der Ansicht, dass das polnische Gesetz, das eingeführt wurde, um die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Beurteilung von Richterkandidaten für das Oberste Gericht durch den Landesjustizrat auszuschließen, gegen EU-Recht verstößt.
In seinen Schlussanträgen prüft Generalanwalt Evgeni Tanchev zunächst, ob das Unionsrecht einer Bestimmung entgegensteht, die zur Folge hat, dass ein nationales Verfahren von Gesetzes wegen eingestellt wird, ohne dass die Möglichkeit besteht, dieses Verfahren fortzusetzen oder es erneut bei einem anderen Gericht anhängig zu machen, und ob das Unionsrecht der Folge entgegensteht, die sich durch diese nationale Bestimmung im Hinblick auf einen Ausschluss der Zuständigkeit des Gerichtshofs in den Fällen ergeben kann, in denen bereits ein Vorabentscheidungsersuchen ergangen ist, das noch anhängig ist.
Er erinnert daran, dass das Schlüsselelement des Gerichtssystems der Union in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren bestehe, das durch die Einrichtung eines Dialogs zwischen dem EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts sicherstellen und damit dessen Kohärenz, seine volle Geltung und seine Autonomie sowie letztlich den eigenen Charakter des durch die Verträge geschaffenen Rechts gewährleisten soll. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergebe sich eindeutig, dass es den nationalen Gerichten nach dieser Bestimmung freigestellt bleiben müsse, ob sie dem EuGH Vorabentscheidungsfragen vorlegen oder nicht.
Der Generalanwalt ist daher der Auffassung, dass das Unionsrecht einem nationalen Gesetz entgegensteht, das die Einstellung von Verfahren wie den vor dem vorlegenden Gericht anhängigen von Rechts wegen anordnet und gleichzeitig die Abgabe der Verfahren an ein anderes nationales Gericht wie auch die erneute Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einem anderen nationalen Gericht ausschließt. Darüber hinaus vereitele eine solche nationale Regelung in einem Kontext, in dem das ursprünglich zuständige nationale Gericht nach der wirksamen Einleitung des Verfahrens zur Überprüfung der Entschließungen der KRS den EuGH um Vorabentscheidung ersucht habe, das Recht auf Zugang zu einem Gericht auch insoweit, als sie dem (ursprünglich) zuständigen Gericht in dem anhängigen Individualverfahren sowohl die Möglichkeit nehme, den EuGH mit Erfolg um Vorabentscheidung zu ersuchen, als auch das Recht, die Entscheidung des EuGH abzuwarten, und höhle damit den unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus.
Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass die Beseitigung des gerichtlichen Rechtsbehelfs (bzw. des Rechts darauf) und insbesondere sein Entzug gegenüber Parteien eines Rechtsstreits, die diesen bereits eingelegt hatten, eine Maßnahme darstelle, die ihrer Art nach nicht nur zum Eindruck mangelnder Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der an das betreffende Gericht berufenen Richter wie auch des Gerichts selbst beitrage, sondern diesen Eindruck sogar verstärke. Dieser fehlende Eindruck der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verstoße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.
Im Rahmen der Prüfung des Vorrangs des Unionsrechts im vorliegenden Fall geht Generalanwalt Tanchev auf neuere Urteile des BVerfG und des polnischen Obersten Gerichts ein. Ersteres entschied in der Rechtssache Weiss (2 BvR 859/15) unter anderem, dass ein Urteil des EuGH einen Ultra-vires-Akt darstelle und in Deutschland nicht anwendbar sei, letzteres (Beschluss der Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts – II DO 52/20) entschied anschließend zu einem Urteil des EuGH, dass es nicht als in der polnischen Rechtsordnung verbindlich angesehen werden könne. Insbesondere führt der Generalanwalt aus, dass das BVerfG, anstatt mit seiner aus dem Rahmen fallenden Vorgehensweise das gesamte, auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhende System der Rechtsgemeinschaft der Union zu gefährden, hätte erklären können, was seiner Ansicht nach an der Rechtsprechung des EuGH kritikwürdig ist, und dann dem EuGH ein neues Vorabentscheidungsersuchen vorlegen können.
Er hebt die Bedeutung des gerichtlichen Dialogs hervor, der von integraler Bedeutung für die Funktionsweise der Rechtsordnung der Union ist. Nach Ansicht des Generalanwalts untergräbt der Ultra-vires-Ansatz des BVerfG die Rechtsstaatlichkeit in der Union, die jedoch als conditio sine qua non für die Integration unerlässlich ist. In der Tat diene die Rechtsstaatlichkeit als Brücke für die Bewältigung von Konflikten zwischen Gerichten. Der Generalanwalt komme im Wesentlichen zu dem Schluss, dass nach den Verträgen, die den von den Mitgliedstaaten geschlossenen „Vertrag“ darstellen, in Fragen des Unionsrechts der EuGH die letzte Instanz ist und eine Entscheidung wie in der Rechtssache Weiss daher weder der Rolle noch der Zuständigkeit des BVerfG zukommt. Nach den Verträgen sei es keinem nationalen Gericht gestattet, sich über ein Urteil des EuGH hinwegzusetzen, denn andernfalls würde das Unionsrecht nicht in allen 27 Mitgliedstaaten gleichmäßig und wirksam angewendet, womit die gesamte rechtliche Grundlage der Union in Frage gestellt wäre. Mit anderen Worten kann ein nationales Verfassungsgericht, wenn es der Ansicht ist, dass ein Akt der Union oder eine Entscheidung des Gerichtshofs mit der Verfassung des Landes in Konflikt steht, den Akt oder die Entscheidung nicht einfach für in seinem Land nicht anwendbar erklären.
Darüber hinaus führt der Generalanwalt aus, dass der EuGH bereits implizit anerkannt hat, dass Art. 19 Abs. 1 EUV unmittelbare Wirkung hat und von den Verfahrensbeteiligten vor nationalen Gerichten als eigenständige Rechtsgrundlage (neben Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) geltend gemacht werden kann, wenn es darum geht, die Vereinbarkeit des Handelns eines Mitgliedstaats mit dem Unionsrecht zu beurteilen. Seiner Ansicht nach kann Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im vorliegenden Fall vom vorlegenden Gericht unmittelbar angewandt werden, um die streitigen nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen und sich für zuständig zu erklären, die Rechtssachen in dem Rechtsrahmen zu entscheiden, der vor dem Erlass dieses Gesetzes galt.
Nach Auffassung des Generalanwalts ist wegen der besonderen Umstände in Polen eine gerichtliche Kontrolle der Ernennungsverfahren durch ein Gericht, dessen Unabhängigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unverzichtbar, um den Eindruck der Unabhängigkeit der in diesen Verfahren ernannten Richter zu wahren. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die raschen Änderungen der polnischen Gesetze, die die gerichtliche Kontrolle der Auswahlverfahren und Entscheidungen der KRS regeln. Diese Änderungen ließen zweifeln, ob das derzeitige Ernennungsverfahren für die Berufung zum Richter am Obersten Gericht, das als Gericht letzter Instanz von eminenter Bedeutung für das gesamte Rechtssystem sei, bei der Kandidatenauswahl auf die innere Unabhängigkeit – und nicht auf die politische Passform – der Kandidaten abstelle.
Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht seine Zuständigkeit für die Beschwerden im Ausgangsrechtsstreit wahren könne.
In Bezug auf eine Beschwerderegelung wie diejenige, die ursprünglich für die Rechtssachen im Ausgangsverfahren galt und die Mängel hinsichtlich der Wirksamkeit aufweise, führt Generalanwalt Tanchev aus, dass der Rechtsbehelf, der denjenigen Teilnehmern am Ernennungsverfahren, die nicht zur Ernennung vorgeschlagen wurden, zur Verfügung stand, völlig unwirksam sei, da er die rechtliche Lage des Kandidaten, der in dem mit der Entschließung der KRS endenden Verfahren Beschwerde einlege, nicht ändere und keine neuerliche Prüfung seiner Bewerbung um die unbesetzte Richterstelle am Obersten Gericht gestatte, wenn der betreffende Antrag im Zusammenhang mit der Bekanntgabe einer Ausschreibung für eine bestimmte Richterstelle weitergeleitet wurde. Zur Wirksamkeit der Beschwerderegelung wäre es erforderlich: 1) dass das gesamte Ernennungsverfahren bis zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts über den Rechtsbehelf gehemmt wird, wenn einer der nicht ausgewählten Kandidaten für das Richteramt am Obersten Gericht Beschwerde einlegt; 2) dass die zuständige Einrichtung des Mitgliedstaats (die KRS) in dem Individualverfahren betreffend die Ernennung zum Richter am Obersten Gericht zur erneuten Entscheidung verpflichtet ist, wenn der Beschwerde gegen die Entschließung der KRS, keinen Vorschlag für die Ernennung zum Richter am Obersten Gericht einzureichen, stattgegeben wird; 3) dass die Entschließung bestandskräftig wird, wenn das vorlegende Gericht die dagegen eingelegten Beschwerden zurückgewiesen hat, und die Entschließung erst dann dem Präsidenten der Republik vorgelegt und der im Vorschlag genannte Kandidat zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt werden darf.
Das vorlegende Gericht müsse daher (i) Bestimmungen, die dazu führen würden, dass die Möglichkeit, die Beurteilung der Richterkandidaten im Hinblick auf die von ihnen zu erfüllenden Voraussetzungen auf Beurteilungsfehler hin zu prüfen, völlig ausgeschlossen wäre, sowie (ii) die Teilbestandskraft der Entschließungen der KRS in Bezug auf die ernannten Kandidaten unangewendet lassen.