Generalanwalt Collins im Verfahren C-430/21 vor dem Europäischen Gerichtshof: Das Unionsrecht steht einer nationalen Bestimmung oder Praxis eines Mitgliedstaats entgegen, wonach die nationalen Gerichte nicht befugt sind, die Vereinbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts, die durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts des Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurde, mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu prüfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 13/22 vom 20.01.2022 ergibt sich:
Es schließt auch aus, dass gegen einen Richter wegen einer solchen Prüfung Disziplinarverfahren eingeleitet oder Disziplinarstrafen verhängt werden.
RS wurde in einem Strafverfahren in Rumänien verurteilt. Am 1. April 2020 erstattete seine Ehefrau Strafanzeige u. a. gegen drei Justizangehörige: einen Staatsanwalt und zwei Richter. Sie warf ihnen eine Verletzung der Verteidigungsrechte ihres Mannes vor.
Die Anzeige wurde im Register der Secția pentru Investigarea Infracțiunilor din Justiție (Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz, im Folgenden: AUSJ) des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) registriert.
In seinem Urteil vom 18. Mai 20211 entschied der Gerichtshof, dass eine nationale Regelung, die die Errichtung der AUSJ vorsieht, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn deren Errichtung nicht durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist und mit besonderen, vom Gerichtshof vorgegebenen Garantien einhergeht.
In der Entscheidung Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021 stellte die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Rumäniens fest, dass sie die in Rede stehenden Rechtsvorschriften in früheren Entscheidungen für verfassungsgemäß befunden habe und keinen Grund sehe, von diesen Entscheidungen abzuweichen, ungeachtet des Urteils des Gerichtshofs vom 18. Mai 2021. Art. 148 Abs. 2 der rumänischen Verfassung stelle zwar den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts sicher, doch dürfe dieser Grundsatz nicht als Aufgabe oder Missachtung der nationalen Verfassungsidentität verstanden werden.
Vor diesem Hintergrund hat die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht, um im Wesentlichen zu klären, ob einem nationalen Richter die Prüfung, ob eine nationale Bestimmung, die vom Verfassungsgericht des Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurde, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, unter Androhung von Disziplinarverfahren und Disziplinarstrafen für den Fall der Zuwiderhandlung verwehrt sein darf.
In seinen Schlussanträgen führt Generalanwalt Collins aus, dass in einem Fall wie dem vorliegenden das nationale Gericht an die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen gebunden sei. Gegebenenfalls sei es gehalten, von der Beurteilung eines höheren Gerichts oder auch des nationalen Verfassungsgerichts abzuweichen, wenn es angesichts der Auslegung des Gerichtshofs der Auffassung sei, dass die in Rede stehenden Bestimmungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien.
Berufe sich ein Mitgliedstaat auf die nationale Identität, um die Nichteinhaltung unionsrechtlicher Bestimmungen zu rechtfertigen, werde der Gerichtshof prüfen, ob die betreffenden Bestimmungen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft oder der grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen des Mitgliedstaats darstellten. Vage, allgemeine oder abstrakte Behauptungen genügten dieser Anforderung nicht. Jedenfalls müsse jede Geltendmachung nationaler Identität die in Art. 2 EUV niedergelegten gemeinsamen Werte der Union achten und auf den unteilbaren und universellen Werten beruhen, die im zweiten Absatz der Präambel der Grundrechtecharta genannt seien.
Der Tenor der Entscheidung Nr. 390/2021 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) lasse insoweit ernste Zweifel aufkommen, ob die wesentlichen Grundsätze des Unionsrechts in der vom Gerichtshof im Urteil vom 18. Mai 2021 vorgenommenen Auslegung von diesem Gericht eingehalten worden seien.
Nach Art. 148 Abs. 2 der rumänischen Verfassung in dessen Auslegung durch die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in der Entscheidung Nr. 390/2021 seien die nationalen Gerichte offenbar nicht befugt, die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, die durch eine Entscheidung der Curtea Constituțională für verfassungsgemäß erklärt worden sei, mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu prüfen. Danach sei das vorlegende Gericht also effektiv daran gehindert, zu prüfen, ob die Errichtung und Arbeitsweise der AUSJ mit dem Unionsrecht vereinbar sei, sowie, soweit dies im Hinblick auf die vom Gerichtshof im Urteil vom 18. Mai 2021 gegebenen Hinweise erforderlich und angemessen sein sollte, die in Rede stehenden einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts nach den Grundsätzen des Vorrangs des Unionsrechts und der unmittelbaren Wirkung unangewendet zu lassen.
Insoweit weist der Generalanwalt darauf hin, dass die nationalen Gerichte die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gewährleisten und die für einen wirksamen Rechtsschutz erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen müssten. Welche Art von Rechtsbehelf hänge davon ab, ob die unionsrechtlichen Handlungen oder Maßnahmen unmittelbare Wirkung hätten. Auch wenn Rechtsakte oder Maßnahmen keine unmittelbare Wirkung hätten, könne ihr zwingender Charakter für die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge haben. Unter bestimmten Umständen könne die Nichterfüllung dieser Verpflichtung Staatshaftungsansprüche auslösen.
Nationale Gerichte, die mit der Entscheidung in Sachen, die die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht beträfen, befasst seien, müssten daher ihre Funktionen in völliger Autonomie ausüben können, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten. Solche unzulässigen Interventionen oder Druck von außen seien auch Verfassungsgerichtsurteile wie das der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in ihrer Entscheidung Nr. 390/2021, die darauf abzielten, nationale Gerichte daran zu hindern, die volle Anwendung des Unionsrechts und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten.
Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in der Entscheidung Nr. 390/2021 unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und gegen das grundlegende Erfordernis einer unabhängigen Justiz rechtswidrig eine Zuständigkeit angemaßt habe.
Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta stehe einer Bestimmung oder Praxis des nationalen Rechts entgegen, wonach die nationalen Gerichte nicht befugt seien, die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, die durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts des Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt worden sei, mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu prüfen. Nach demselben Grundsatz sei es auch ausgeschlossen, gegen einen Richter wegen einer solchen Prüfung Disziplinarverfahren einzuleiten oder Disziplinarstrafen zu verhängen.
1 Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, siehe auch Pressemitteilung Nr. 82/21.