Generalanwalt Nicholas Emiliou hat am 20.01.2022 im Verfahren C-589/20 vor dem Europäischen Gerichtshof seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob und gegebenenfalls inwieweit Fluglinien haften, wenn Fluggäste sich durch Stolpern oder Ausrutschen an Bord oder beim Ein- oder Aussteigen verletzen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 20.01.2022 ergibt sich:
Eine Reisende auf einem Austrian Airlines-Flug von Thessaloniki nach Wien verlangt vor dem Landesgericht Korneuburg von Austrian Airlines Schadensersatz wegen Verletzungen, die sie erlitt, als sie ohne erkennbaren Grund beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzte.
Das Landesgericht möchte in diesem Zusammenhang vom Gerichtshof wissen, ob ein solcher Sturz einen „Unfall“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal (Art. 17 Abs. 1) darstellt, der die Haftung des Luftfahrtunternehmens auslöst.
Außerdem möchte es wissen, ob der Umstand, dass sich der Fluggast nicht an den Handläufen der Bordtreppe festgehalten hat, ein fahrlässiges Mitverschulden seinerseits darstellt, das das Luftfahrtunternehmen von seiner Haftung befreit (nach Art. 20 des Übereinkommens).
In seinen Schlussanträgen von heute erläutert Generalanwalt Emiliou, warum die beiden Fragen nuanciert und einzelfallbezogen beantwortet werden sollten.
Generalanwalt Emiliou schlägt dem Gerichtshof vor, dem Landesgericht Korneuburg wie folgt zu antworten:
- Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung einen Fall erfasst, in dem ein Fluggast beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzt, sofern der Sturz durch einen unerwarteten oder ungewöhnlichen Faktor ausgelöst wurde, der außerhalb der Sphäre des Fluggasts liegt.
- Art. 20 dieses Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass er im Zusammenhang mit einem Anspruch nach Art. 17 des Übereinkommens Anwendung findet, wenn die klagende Partei nicht die gebotene Sorgfalt hinsichtlich ihrer Sicherheit an den Tag gelegt und aus diesem Grund ihre Verletzung verursacht oder zu ihr beigetragen hat. Die nationalen Gerichte haben dies unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu beurteilen. Der Grad der Haftungsbefreiung des Luftfrachtführers hängt davon ab, inwieweit die Verletzung (i) durch den fraglichen „Unfall“ und (ii) durch die Fahrlässigkeit der klagenden Partei verursacht wurde. Die vollständige Haftungsbefreiung ist auf Fälle grober Fahrlässigkeit seitens der klagenden Partei beschränkt.
Zu Antwortvorschlag 1 führt der Generalanwalt u.a. aus, dass dann, wenn ein Fluggast auf einem Schmierfleck auf dem Kabinenboden, auf einer tückisch schneebedeckten Bordtreppe oder aufgrund anderer ähnlicher Umstände ausrutsche und stürze, die daraus resultierende Verletzung durch einen „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal verursacht worden sei.
Wenn hingegen ein Fluggast, wie es bei der hier Betroffenen unter den gegebenen Umständen der Fall gewesen sei, auf einer Bordtreppe stürze, die nicht rutschig, schadhaft oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich gefährlich sei, und wenn zudem nicht nachgewiesen werde, dass der Sturz durch einen anderen „unerwarteten“ oder „ungewöhnlichen“ (oder „unvorhergesehenen“) Faktor – eine plötzlich sich auftuende Lücke zwischen dem Luftfahrzeug und der Treppe usw. – ausgelöst worden sei, dann liege kein solcher „Unfall“ vor. Bei diesem Sturz handele es sich um nichts anderes als um die dem Fluggast eigentümliche, eigene oder sonderbare – und unerklärliche – Reaktion auf die gewöhnliche, normale und erwartete Funktion dieser Treppe. (RN 61)
Zu Antwortvorschlag 2 weist der Generalanwalt darauf hin, dass der Gerichtshof die zweite Frage nicht zu beantworten habe, wenn er die erste Frage wie von ihm vorgeschlagen beantworte. Das Landesgericht Korneuburg dürfte dann nämlich dem Begehren der Betroffenen nicht stattgeben – da nicht dargetan wäre, dass ihre Verletzung durch einen „Unfall“ verursacht worden sei – und bräuchte sich nicht mit der Frage des fahrlässigen Mitverschuldens zu befassen. Der Generalanwalt behandelt diese Frage daher nur hilfsweise.