Der Europäische Gerichtshof hat am 24.03.2021 zu den Aktenzeichen C-870/19 und C-871/19 entschieden, dass gegen die Fahrer von Lastkraftwagen und Bussen, die bei einer Kontrolle nicht in der Lage sind, die Schaublätter des Fahrtenschreibers für den Tag der Kontrolle und die vorausgehenden 28 Tage vorzulegen, nur eine einzige Sanktion verhängt werden kann, unabhängig davon, wie viele Schaublätter fehlen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 45/2021 vom 24.03.2021 ergibt sich:
Der Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen, wonach für die Bürger erkennbar sein muss, für welche Verhaltensweisen sie nach den gesetzlichen Vorschriften mit welchen Sanktionen zur Verantwortung gezogen werden, gilt für diesen Bereich.
Bei zwei Verkehrskontrollen, die im Jahr 2013 in Italien durchgeführt wurden, stellten die italienischen Behörden fest, dass die Kraftfahrer (d. h. die Fahrer von Lastkraftwagen oder Bussen) MI (Rechtssache C-870/19) bzw. TB (Rechtssache C-871/19) für den laufenden Tag und mehrere der vorausgehenden 28 Tage nicht in der Lage waren, die Schaublätter des in ihrem Fahrzeug eingebauten Fahrtenschreibers vorzulegen. Sie verhängten daher gegen MI und TB mehrere verwaltungsrechtliche Sanktionen wegen mehrerer Verstöße. MI und TB erhoben bei den italienischen Gerichten Klagen gegen diese Sanktionen.
Die mit diesen Rechtssachen in letzter Instanz befasste Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) möchte vom Gerichtshof wissen, ob das Unionsrecht (Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 – ABl. 1985, L 370, S. 8 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 561/2006 – ABl. 2006, L 102, S. 1 geänderten Fassung), wonach ein Fahrer in der Lage sein muss, die Schaublätter für den Tag der Kontrolle und die vorausgehenden 28 Tage vorzulegen, dahin auszulegen ist, dass die zuständigen Behörden unter Umständen wie jenen der vorliegenden Verfahren gegen den Fahrer eine einzige Sanktion wegen eines einheitlichen Verstoßes zu verhängen haben oder mehrere gesonderte Sanktionen wegen mehrerer gesonderter Verstöße, deren Zahl der Zahl fehlender Schaublätter entspricht.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass im Fall der Fahrer von Lastkraftwagen und Bussen, die bei einer Kontrolle die Schaublätter des Fahrtenschreibers für mehrere Arbeitstage in einem den Tag der Kontrolle und die vorausgehenden 28 Tage umfassenden Zeitraum nicht vorlegen, die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die Kontrolle durchgeführt wurde, nur einen Verstoß dieses Fahrers feststellen und gegen ihn nur eine einzige Sanktion verhängen dürfen.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Ziele der fraglichen Regelung zum einen in der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fahrer von Lastkraftwagen und Bussen sowie der Straßenverkehrssicherheit allgemein und zum anderen in der Festlegung einheitlicher Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten der Fahrer sowie ihrer Kontrolle bestehen. Jeder Mitgliedstaat muss die Beachtung dieser Vorschriften in seinem Hoheitsgebiet sicherstellen, indem er ein System von Sanktionen für Verstöße vorsieht.
Der Gerichtshof hebt hervor, dass das Unionsrecht eine einheitliche Verpflichtung begründet, die sich auf den gesamten Zeitraum von 29 Tagen erstreckt. Somit stellt die Verletzung dieser Verpflichtung einen einheitlichen und einmaligen Verstoß dar, der darin besteht, dass der betreffende Fahrer bei der Kontrolle nicht alle 29 Schaublätter vorlegen kann. Dieser Verstoß kann nur zu einer einzigen Sanktion führen.
Der Gerichtshof fügt jedoch hinzu, dass ein solcher Verstoß umso schwerwiegender ist, je höher die Zahl der Schaublätter ist, die vom Fahrer nicht vorgelegt werden können.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen vorsehen müssen, die im Verhältnis zur Schwere der Verstöße hoch genug sind, um eine wirklich abschreckende Wirkung zu erzielen. Außerdem müssen diese Sanktionen hinreichend an die Schwere der Verstöße angepasst werden können.
Auf diesen Bereich ist der in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen anwendbar. Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen gesetzlich klar definiert sein müssen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine Verantwortung begründen.