Der Europäische Gerichtshof hat am 22.03.2022 zum Aktenzeichen C-508/19 das Vorabentscheidungsersuchen eines polnischen Gerichts für unzulässig erklärt, mit dem geklärt werden soll, ob das Unionsrecht diesem Gericht die – ihm nach polnischem Recht nicht zustehende – Befugnis verleiht, das Nichtbestehen des Dienstverhältnisses eines Richters wegen Mängeln seiner Ernennung festzustellen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 48/22 vom 22.03.2022 ergibt sich:
Die von dem nationalen Gericht vorgelegten Fragen sind für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich.
Im Januar 2019 wurde gegen M. F., Richterin am Sąd Rejonowy w P. (Rayongericht P., Polen) ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil sie bei ihr anhängige Verfahren verschleppt habe. Als die Arbeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) leitender Präsident dieses Gerichts bestimmte J. M. den Sąd Dyscyplinarny przy Sądzie Apelacyjnym w … (Disziplinargericht beim Berufungsgericht …, Polen) als das für dieses Verfahren zuständige Gericht.
M.F., die der Ansicht ist, dass die Ernennung von J. M. auf eine Stelle in dieser Disziplinarkammer mit mehreren Unregelmäßigkeiten behaftet sei, erhob beim Obersten Gericht eine Zivilklage, mit der sie die Feststellung, dass zwischen J. M. und diesem Gericht kein Dienstverhältnis bestehe, und die Aussetzung des gegen sie geführten Disziplinarverfahrens beantragte. Eine der Kammern des Obersten Gerichts, die Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen, im Folgenden: vorlegendes Gericht), wurde mit der Prüfung dieser Anträge beauftragt.
Nachdem das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass im Richtermandat ein öffentlich-rechtliches und kein zivilrechtliches Rechtsverhältnis zum Ausdruck komme und dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende somit nicht in den Anwendungsbereich der Zivilprozessordnung fallen könne, fragt es sich jedoch, ob der im Unionsrecht verankerte Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes und die den Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegende Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass die Gerichte der betreffenden Rechtsordnung, die in vom Unionsrecht erfassten Bereichen entscheiden könnten, die sich aus diesem Grundsatz ergebenden Anforderungen erfüllten, insbesondere die in Bezug auf ihre Unabhängigkeit, ihre Unparteilichkeit und ihre Errichtung durch Gesetz, dazu führten, dass ihm die – ihm nach polnischem Recht nicht zustehende – Befugnis verliehen werde, im Ausgangsverfahren festzustellen, dass der betreffende Beklagte kein Richtermandat habe.
In seinem heutigen Urteil erklärt der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die von einem nationalen Gericht vorgelegten Fragen für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits objektiv erforderlich sein müssen und dass die durch Art. 267 AEUV geschaffene Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten somit grundsätzlich voraussetzt, dass das vorlegende Gericht für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist, damit dieser nicht als rein hypothetisch angesehen wird. Obwohl der Gerichtshof anerkannt hat, dass es sich unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen anders verhalten kann, ist es im vorliegenden Fall nicht möglich, zu einem solchen Ergebnis zu gelangen.
Erstens weist das vorlegende Gericht nämlich selbst darauf hin, dass es, wenn es mit einer Zivilklage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses befasst ist, nach nationalem Recht nicht über die Befugnis verfügt, die es ihm erlauben würde, über die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Ernennung zu entscheiden.
Zweitens zielt die von M. F. erhobene Zivilklage in Wirklichkeit darauf ab, die Entscheidung anzufechten, mit der J. M. das Disziplinargericht bestimmt hat, das für das Disziplinarverfahren gegen M. F. zuständig ist, dessen vorläufige Aussetzung sie im Übrigen bei dem vorlegenden Gericht beantragt. Die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen betreffen somit ihrem Wesen nach ein anderes Verfahren als den Ausgangsrechtsstreit, zu dem dieser nur akzessorisch ist. Um darauf antworten zu können, wäre der Gerichtshof daher gezwungen, die Merkmale dieses anderen Verfahrens zu berücksichtigen, statt sich an die Konstellation des Ausgangsrechtsstreits zu halten, wie es Art. 267 AEUV verlangt.
Drittens führt der Gerichtshof aus, dass M. F., wenn sie kein unmittelbares Klagerecht gegen die Ernennung von J. M. zum Präsidenten der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts oder gegen die Handlung von J. M. hat, mit der das mit der Prüfung des Verfahrens betraute Disziplinargericht bestimmt wurde, vor diesem Gericht hätte rügen können, dass durch die fragliche Ernennung möglicherweise ihr Recht auf Entscheidung dieses Verfahrens durch ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht missachtet worden sei. Insoweit weist der Gerichtshof im Übrigen darauf hin, dass er entschieden hat, dass die Bestimmungen des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, soweit sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts das Ermessen einräumen, das zuständige Disziplinargericht für gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingeleitete Disziplinarverfahren zu bestimmen, nicht die Anforderung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfüllen, wonach es möglich sein muss, dass solche Rechtssachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden1. Soweit diese Bestimmung eine solche Anforderung aufstellt, ist sie im Übrigen als unmittelbar wirksame Bestimmung anzusehen, so dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionrechts es einem so bestimmten Disziplinargericht vorschreibt, die nationalen Vorschriften, nach denen es bestimmt wurde, unangewendet zu lassen und sich somit für die Entscheidung über das ihm zugewiesene Verfahren für unzuständig zu erklären.
Viertens weist der Gerichtshof darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Klage im Ausgangsverfahren im Wesentlichen darauf gerichtet ist, eine Art Nichtigerklärung erga omnes der Ernennung von J. M. zum Richter zu erwirken, obwohl das nationale Recht es nicht sämtlichen Einzelnen gestattet – und nie gestattet hat –, die Ernennung von Richtern mit einer direkten Klage auf Nichtig- oder Ungültigerklärung einer solchen Ernennung anzufechten.