Der Europäische Gerichtshof hat am 23.11.2021 zum Aktenzeichen C-564/19 entschieden, dass es mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, dass ein Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein vom Generalstaatsanwalt eingelegtes Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines von einem untergeordneten Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungsersuchens feststellt, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. Nr. 207/2021 vom 23.11.2021 ergibt sich:
Auf der Grundlage des Vorrangs des Unionsrechts muss ein mitgliedstaatliches Gericht jede mitgliedstaatliche Rechtsprechungspraxis, die seine Befugnis zur Befragung des Gerichtshofs beeinträchtigt, außer Acht lassen.
Ein Richter des Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) ist mit einem Strafverfahren gegen einen schwedischen Staatsangehörigen befasst. Bei der ersten Vernehmung durch die Ermittlungsbehörde wurde der Angeklagte, der die ungarische Sprache nicht beherrscht und von einem Dolmetscher für die schwedische Sprache unterstützt wurde, über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht unterrichtet. Allerdings gibt es keine Angaben zur Auswahl des Dolmetschers, zur Überprüfung seiner Fähigkeiten oder dazu, dass sich der Dolmetscher und der Angeklagte verstanden. In Ungarn gibt es nämlich kein amtliches Register mit Übersetzern und Dolmetschern und die ungarischen Rechtsvorschriften stellen weder klar, wer in Strafverfahren als Übersetzer oder Dolmetscher bestellt werden kann, noch nach welchen Kriterien. Daher könnten nach Auffassung des befassten Richters weder Rechtsanwälte noch Richter die Qualität der Dolmetschleistungen überprüfen. Unter diesen Umständen könnten das Recht des Angeklagten auf Rechtsbelehrung und seine Verteidigungsrechte verletzt werden.
In dieser Situation hat dieser Richter beschlossen, den Gerichtshof zur Vereinbarkeit der ungarischen Regelung mit der Richtlinie 2010/64 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren – ABl. 2010, L 280, S. 1) und der Richtlinie 2012/13 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) zu befragen. Für den Fall der Unvereinbarkeit möchte er zudem wissen, ob das Strafverfahren in Abwesenheit des Angeklagten fortgeführt werden dürfe, da ein solches Verfahren in bestimmten Fällen im ungarischen Recht vorgesehen sei, wenn der Angeklagte zur Verhandlung nicht erscheint.
Nach dieser ursprünglichen Befassung des Gerichtshofs entschied die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) über ein vom ungarischen Generalstaatsanwalt gegen die Vorlageentscheidung eingelegtes Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts und erklärte diese für rechtswidrig, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen dieses Ersuchens betroffen sind, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des betreffenden Rechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien. Aus denselben Gründen wie sie der Entscheidung der Kúria (Oberster Gerichtshof) zugrunde liegen, wurde gegen den vorlegenden Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das inzwischen zurückgezogen wurde. Dieser Richter, der Zweifel an der Vereinbarkeit eines solchen Verfahrens und der Entscheidung der Kúria (Oberster Gerichtshof) mit dem Unionsrecht sowie hinsichtlich der Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Fortführung des Ausgangsstrafverfahrens hat, hat dazu ein ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen eingereicht.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof (Große Kammer) stellt in einem ersten Schritt fest, dass das durch Art. 267 AEUV errichtete System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dem entgegensteht, dass das Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines von einem untergeordneten Gericht eingereichten Vorabentscheidungsersuchens feststellt, ohne dass die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien. Eine solche Überprüfung der Rechtmäßigkeit kommt nämlich der Prüfung der Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens gleich, für die der Gerichtshof ausschließlich zuständig ist. Eine derartige Feststellung der Rechtswidrigkeit ist zudem geeignet, zum einen die Autorität der Antworten, die der Gerichtshof geben wird, zu schwächen und zum anderen die Ausübung der Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte zu begrenzen, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, so dass sie den wirksamen gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte beschränken kann.
Unter solchen Umständen verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das untergeordnete Gericht, die Entscheidung des Höchstgerichts des betreffenden Mitgliedstaats außer Acht zu lassen. Der Umstand, dass der Gerichtshof in der Folge die Unzulässigkeit der durch dieses untergeordnete Gericht gestellten Vorlagefragen feststellen könnte, ändert nichts an dieser Schlussfolgerung.
In einem zweiten Schritt stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegensteht, weil dieser den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersucht hat, da schon die bloße Aussicht, diesem ausgesetzt zu sein, den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus und die richterliche Unabhängigkeit, die für das reibungslose Funktionieren dieses Mechanismus von wesentlicher Bedeutung ist, beeinträchtigen kann. Zudem ist ein solches Disziplinarverfahren geeignet, sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte davon abzuhalten, Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, was die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährden könnte.
Schließlich prüft der Gerichtshof in einem dritten Schritt die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie 2010/64 in Bezug auf die Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren. In diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ergreifen, um zum einen sicherzustellen, dass die Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann. Die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern stellt insoweit eines der Mittel dar, um dieses Ziel zu verfolgen. Zum anderen müssen die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen den nationalen Gerichten die Prüfung der ausreichenden Qualität der Dolmetschleistungen ermöglichen, damit ein faires Verfahren und die Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleistet ist.
Als Ergebnis dieser Prüfung kann das nationale Gericht zu dem Schluss kommen, dass aufgrund unzureichender Dolmetschleistungen oder der Unmöglichkeit, die Qualität der Dolmetschleistungen festzustellen, eine Person nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. Unter solchen Umständen stehen die Richtlinien 2010/64 und 2012/13 in Verbindung mit den Verteidigungsrechten im Sinne von Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem entgegen, dass das Strafverfahren in Abwesenheit fortgeführt wird.