Rechtsschutzversicherung darf Versicherungsnehmer zur Streitwertbeschwerde auffordern

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 02. November 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 533/20 entschieden, dass eine Rechtsschutzversicherung seinen Versicherungsnehmer zur Streitwertbeschwerde auffordern darf und sodann ein Rechtsschutzbedürfnis hat.

Die Beschwerdeführerin rügt, ihr sei verfassungswidrig Rechtsschutz gegen einen Wertfestsetzungsbeschluss versagt worden.

Die Beschwerdeführerin hatte einem Arbeitnehmer gekündigt, der daraufhin beim Arbeitsgericht Chemnitz die Feststellung beantragte, dass die Kündigung unwirksam sei. Der Rechtsstreit wurde durch einen Vergleich beendet. In diesem wurde vereinbart, dass das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des nächsten Monats ende und der Arbeitnehmer bis dahin bei Fortzahlung seines Gehalts von der Arbeitspflicht freigestellt sei.

Auf Antrag der Prozessbevollmächtigten setzte das Arbeitsgericht den „Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit“ fest. Der Beschluss wies einen Vergleichsmehrwert aus, was das Arbeitsgericht mit der Freistellungsregelung begründete.

Auf der Grundlage dieses Wertfestsetzungsbeschlusses stellte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin eine Rechnung, die sie ihrer Rechtsschutzversicherung zum Ausgleich vorlegte. Die Versicherung war jedoch nicht bereit zu zahlen, da die Vergütung überhöht sei. Der ausgewiesene Vergleichsmehrwert sei zu Unrecht angesetzt worden. Nach dem Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichtsbarkeit sei ein Vergleichsmehrwert wegen einer Freistellung nur dann zu berücksichtigen, wenn sich eine Partei zuvor eines Anspruchs auf oder eines Rechts zur Freistellung berühmt habe. Die Versicherung wies darauf hin, dass daher eine Obliegenheitsverletzung vorliege, wenn keine Beschwerde gegen die Wertfestsetzung eingelegt werde, die zum teilweisen Verlust des Versicherungsschutzes führe.

Daraufhin legte der Anwalt ausdrücklich im Namen und Auftrag der Beschwerdeführerin Beschwerde ein. Dieser half das Arbeitsgericht nicht ab, sondern legte sie dem Sächsischen Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vor. Dieses verwarf die Beschwerde mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 5. Februar 2020 als unzulässig. Es komme nicht darauf an, dass die Beschwerde „verfahrensrechtlich“ namens und im Auftrag der Beschwerdeführerin eingelegt worden sei. Entscheidend sei, dass die Rechtsschutzversicherung die Beschwerdeführerin beziehungsweise ihren Prozessbevollmächtigten zur Einlegung der Beschwerde veranlasst habe. Der Umstand, dass die Beschwerde in ihrem Namen eingelegt worden sei, ändere nichts an der offensichtlichen Tatsache, dass die Beschwerde ausschließlich im Interesse und auf Weisung der Rechtsschutzversicherung erfolge. Diese sei indes nicht beschwerdeberechtigt, weil sie von der Wertfestsetzung nicht unmittelbar betroffen sei. Das entspreche der ständigen Rechtsprechung der für Streitwertbeschwerden zuständigen Kammern des Sächsischen Landesarbeitsgerichts.

Die Beschwerdeführerin meint, die angegriffene Entscheidung verletze ihre Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Ihr sei rechtswidrig und willkürlich ein Rechtsmittel versagt worden. Sie habe ihren Anwalt in Abhängigkeit vom festgesetzten Streitwert zu vergüten; daher müsse sie sich wehren können, wenn das Gericht einen zu hohen Streitwert festsetze. So liege es hier. Wenn das Landesarbeitsgericht darauf abstelle, dass sie rechtsschutzversichert wäre, sei das sachfremd und willkürlich. Eine Beschwer könne nicht beseitigen, dass Prozesskosten von einer Rechtsschutzversicherung getragen würden. Das hätten zahlreiche Entscheidungen verschiedener Gerichte anerkannt. Zudem habe das Landesarbeitsgericht nicht einmal darauf abgestellt, ob die Rechtsschutzversicherung für die geltend gemachten Kosten eintreten würde. Selbst dann entstünden der Beschwerdeführerin aus einer überhöhten Wertfestsetzung noch Nachteile, weil sie eine Kündigung ihres Versicherungsvertrags befürchten müsse, je mehr sie in Rechnung stelle.

Das Landesarbeitsgericht behandele rechtsschutzversicherte und nicht rechtsschutzversicherte Parteien ungleich, wenn es das Beschwerderecht generell versage, wo eine Rechtsschutzversicherung besteht. Das sei nicht zu rechtfertigen.

Das Landesarbeitsgericht verstoße gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter, da statt des Vorsitzenden Richters „als Einzelrichter“ die Kammer hätte entscheiden müssen.

Die Verfassungsbeschwerde wurde den am Wertfestsetzungsverfahren beteiligten Rechtsanwälten sowie dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung zugestellt.

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Garantie effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die für das arbeitsgerichtliche Verfahren von dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verbürgt wird. Weil die Entscheidung bereits aus diesem Grund aufzuheben ist, kann offenbleiben, ob sie darüber hinaus auch gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt.

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip garantiert den Parteien im Zivilprozess effektiven Rechtsschutz. Danach darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies beeinflusst die Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Bestimmungen. Es gibt zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; den Umfang des Rechtsmittelzuges darf der Gesetzgeber bestimmen. Sieht die Prozessordnung jedoch ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang nicht unzumutbar erschwert werden. Die Rechtsmittelgerichte dürfen daher ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für die Beschwerdeführerin leerlaufen lassen.

Diesen Anforderungen ist das Landesarbeitsgericht nicht gerecht geworden. Die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil sie „ausschließlich im Interesse und auf Weisung der Rechtsschutzversicherung“ eingelegt worden sei, ist nicht nachvollziehbar und sachwidrig und verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtlich geschützten Recht auf Justizgewähr. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerde gegen einen sie beschwerenden Wertfestsetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts vielmehr ausdrücklich in eigenem Namen eingelegt. Es liegt auch auf der Hand, dass sie ein eigenes schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung hat, wenn die Rechtsschutzversicherung nicht bereit ist, ohne Korrektur der Wertfestsetzung ihren Anwalt auch für den Vergleichsmehrwert zu vergüten. Dass sie insofern auch die Auffassung der Rechtsschutzversicherung weitergibt, schadet nicht, denn sie macht sich diese zu eigen.