Rechtsmittelversäumnis durch Fehler von Kanzleimitarbeiterin

10. August 2021 -

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 22.06.2021 zum Aktenzeichen VI ZB 15/20 entschieden, dass der Rechtsanwalt durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen hat,  dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. In der Wahl des Verfahrens, mit dem er dies gewährleistet, ist er dabei grundsätzlich frei. Er hat aber sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 8. August 2019 zugestellte Urteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründungsfrist ist am 8. Oktober 2019 abgelaufen. Am 9. Oktober 2019 ist die Berufungsbegründung beim Landgericht eingegangen. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und in den Gründen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts beruht die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers, welches ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen sei. Die Prozessbevollmächtigte habe nicht ihr Möglichstes getan, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Fristen auszuschließen. Die Verfügung vom 4. Oktober 2019 „Verlängerung 1 Monat, wenn Parallelurteil noch nicht da“ sei miss
verständlich und genüge nicht den Voraussetzungen einer präzisen anwaltlichen Einzelanweisung. Aus ihr gehe nicht hervor, dass die Akte zum Fristablauf wieder vorgelegt werden müsse. Sie erwecke zudem den Eindruck, dass die Berufungsbegründungsfrist bereits verlängert worden sei. Daran ändere das Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 4. November 2019 nichts, es habe sich nicht um eine Einzelanweisung, sondern um eine Notiz bzw. einen Bearbeitungsvermerk der Prozessbevollmächtigten an sich selbst gehandelt. Entscheidend sei, dass die Angestellte die Notiz als Weisung in dem Sinne habe missverstehen können und auch tatsächlich missverstanden habe, dass sie zur Löschung der Begründungsfrist berechtigt sei, ohne dass es einer Rückversicherung bei der Prozessbevollmächtigten in Befolgung der allgemeinen Organisationsanweisung bedurft habe. Der Vortrag des Klägers, Einzelanweisungen würden per Diktat, persönlicher Ansprache oder digital erteilt, sei unerheblich, da an der Möglichkeit der Weisungserteilung durch Aktenvermerk im Grundsatz kein Zweifel bestehe. Eine Notiz, die geeignet sei, das Missverständnis hervorzurufen, es liege eine Einzelanweisung vor, sei sorgfaltspflichtwidrig.

Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Dieser gebietet es, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflicht ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht verlangt werden und die der Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann dem Kläger die beantragte Wiedereinsetzung nicht versagt werden.

Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass ein Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare tun muss, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Er hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. In der Wahl des Verfahrens, mit dem er dies gewährleistet, ist er dabei grundsätzlich frei. Er hat aber sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen.

Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht angenommen, die Prozess bevollmächtigte des Klägers habe dadurch Fehlerquellen in das Geschehen hin eingetragen, dass sie eine Notiz in die Akte aufgenommen habe, die geeignet  gewesen sei, bei ihrer Kanzleiangestellten das Missverständnis hervorzurufen,  darin liege die von der allgemeinen Organisationsregelung abweichende Einzelanweisung, die eingetragene Frist zur Berufungsbegründung ohne weitere Rückversicherung bei der Prozessbevollmächtigten zu löschen. Das Berufungsgericht
hat übersehen, dass die Frage, ob eine Aktennotiz als Einzelanweisung missverstanden werden kann, nicht abstrakt, sondern anhand der konkreten Umstände der jeweiligen Büroorganisation zu beurteilen ist. Ausweislich der dem Schriftsatz des Klägers vom 4. November 2019 beigefügten eidesstattlichen Versicherung der Angestellten seiner Prozessbevollmächtigten erfolgten „alle“ Arbeitsanweisungen der Prozessbevollmächtigten per Diktat, persönlicher Ansprache oder digitaler Anweisung in einen auf die Ange stellte lautenden Postkorb, nicht hingegen über (handschriftliche) Vermerke in oder auf der Akte. Dementsprechend habe sie solche Vermerke in all den Jahren nie als Arbeitsanweisung aufgefasst. Derartige Vermerke seien als Gedanken stütze und Bearbeitungsvermerk ausschließlich für die Rechtsanwältin gedacht. Legt man der rechtlichen Beurteilung diese mangels abweichender Feststellungen als glaubhaft zu unterstellenden Ausführungen zur konkreten Büroorganisation zugrunde, kann der Prozessbevollmächtigten des Klägers eine Sorgfaltspflichtverletzung nicht vorgeworfen werden. Sie musste nicht damit rechnen, dass der nur für sie gedachte Bearbeitungsvermerk „Verlängerung 1 Monat, wenn Parallelurteil noch nicht da“ von ihrer Angestellten als Anweisung fehlgedeutet werden würde, die Berufungsbegründungsfrist entgegen der allgemeinen Organisationsregelung ohne Rückversicherung bei ihr zu löschen.