Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 19. Mai 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 362/18 entschieden, dass die Verurteilung eines Rechtsanwaltes wegen Beleidigung verfassungswidrig ist.
Der als Rechtsanwalt tätige Beschwerdeführer vertrat 2015 einen Tierschutzverein, der sich der Rettung ausgesetzter Windhunde annimmt. Im Anschluss an ein vor dem Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt des Kreises Viersen in Nordrhein-Westfalen geführtes Erlaubnisverfahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 des Tierschutzgesetzes, an dessen Ende die vom Verein beantragte Erlaubnis erteilt worden war, sah sich der Beschwerdeführer veranlasst, eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den zuständigen Abteilungsleiter zu erheben. Darin vertrat er die Ansicht, das Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt habe eine unglaubliche materielle Unkenntnis, langsame Bearbeitungszeiten und eine offensichtlich vorsätzlich geführte Hinhaltetaktik in der Sache gezeigt. Nach Schilderung von aus Sicht des Beschwerdeführers kritikwürdigen Vorfällen äußerte er, nunmehr gehe es noch um die Verfahrenskosten des Vereins. Diese habe die Behörde zwar bereits formell anerkannt, es scheine aber so, als ob der zuständige Abteilungsleiter durch immer wieder neue Vorgaben vorsätzlich unnötige Arbeit bereite und letztlich die Kosten nicht erstatten möchte. Wörtlich heißt es anschließend:
„Dieses weitere Verhalten des Herrn H., besonders bereits unter dem Vorverhalten der Behörde in der Sache mit einem absolut ungenügenden Arbeiten, sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an.“
Nach einem Strafantrag des Abteilungsleiters verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 100 Euro. Eine derart verletzende Wortwahl sei nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Diese könne durch die persönliche Ehre begrenzt werden. In diesem Fall sei eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei werde nicht verkannt, dass es dem Grundrechtsträger gestattet sein müsse, auch eine deutliche und provokante Wortwahl zu verwenden. Diese Grenze sei jedoch überschritten worden. Durch die verwendete Formulierung „persönlich“, „hinterhältig“ und „asozial“ sei es nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei. Zudem hätten ohne Weiteres andere Möglichkeiten bestanden, um den Abteilungsleiter für sein – unterstellt – rechtswidriges Verhalten zur Verantwortung zu ziehen. Eine Rechtfertigung nach § 193 StGB liege nicht vor. Dem Beschwerdeführer sei es nicht um die Sache selbst und damit um den „Kampf um das Recht“ gegangen. Er habe lediglich seinen Ärger über das Verwaltungs- verfahren kundtun und den Abteilungsleiter diffamieren wollen.
Das Landgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 313 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig. Die Berufung sei offensichtlich unbegründet, da für jeden Sachkundigen anhand der Urteilsgründe, der Berufungsbegründung und des Protokolls der Hauptverhandlung erster Instanz ohne längere Prüfung erkennbar sei, dass das Urteil sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden sei und keine Verfahrensfehler vorlägen, die die Revision begründen könnten.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde, mit der er sich gegen das Urteil des Amtsgerichts und den Beschluss des Landgerichts wendet, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG und seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings die vom Amts- gericht und vom Landgericht bejahte Einordnung der Äußerungen als ehrkränkend. Dass die Äußerungen des Beschwerdeführers, man sehe das Verhalten des Abteilungsleiters nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an, als ehrverletzend anzusehen sind, steht außer Zweifel und bedurfte vorliegend keiner weiteren Darlegungen.
Die angegriffenen Entscheidungen stützen die Verurteilung jedoch nicht auf eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von der Äußerung Betroffenen und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers.
Eine solche Abwägung war hier nicht schon unter dem Gesichtspunkt der Schmähung entbehrlich. Dabei ist schon nicht eindeutig, ob das Amtsgericht selbst von einer Schmähung ausgegangen ist. Man mag den Ansatz eines Begründungsversuchs hierfür darin sehen, dass es darauf abstellt, durch die verwendete Formulierung „persönlich“, „hinterhältig“ und „asozial“ sei es dem Beschwerdeführer nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei. Dies allein begründet eine Schmähkritik indes nicht. Zur Begründung einer Schmähkritik hätte das Amtsgericht in Auseinandersetzung mit der Äußerung und ihren Umständen näher darlegen müssen, warum es dem Beschwerdeführer nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen sein soll, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar wäre. Dies wird vom Amtsgericht nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Vielmehr handelt es sich um eine persönlich formulierte Ehrkränkung in Anknüpfung und unter Bezug auf eine fortdauernde Auseinandersetzung mit einem sachlichen Kern. Dabei stehen ersichtlich auch nicht krass herabwürdigende Beschimpfungen in Rede, die wegen ihres verächtlichen Charakters gegenüber anderen Personen schon unabhängig von den Umständen generell nicht geäußert werden dürfen und deshalb als Formalbeleidigung zu beurteilen wären. Zur strafrechtlichen Verurteilung kann eine solche Äußerung folglich nur nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers führen.
An einer solchen Abwägung fehlt es. Das Amtsgericht erwähnt zwar das Erfordernis einer „Interessenabwägung“, nimmt aber eine solche Abwägung in der Sache nicht vor. Das Amtsgericht stellt vielmehr allein auf den Wortlaut der ehrverletzenden Äußerungen ab und sieht in deren pointiert ehrkränkenden Bedeutung als solche den Grund für deren Strafwürdigkeit. Es stützt so seine Verurteilung im Wesentlichen nur auf eine abstrakte Würdigung der Äußerungen und ihres herabsetzenden Gehalts. Hierin liegt nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, eine Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerungen gefallen sind. Im Rahmen des von ihm erwähnten § 193 StGB schließt das Amtsgericht ein Handeln des Beschwerdeführers in Ausübung berechtigter Interessen lediglich mit der nicht begründeten Behauptung aus, es sei ihm nicht um die Sache selbst und damit um den „Kampf ums Recht“ gegangen. Vielmehr habe er lediglich seinen Ärger über das Verwaltungsverfahren kundtun wollen. Dies lässt eine Auseinandersetzung mit im Rahmen der Abwägung erheblichen Gesichtspunkten wie etwa Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten vermissen.
Soweit das Amtsgericht ergänzend darauf abstellt, dass ohne Weiteres andere Möglichkeiten bestanden hätten, um den Abteilungsleiter für sein – unterstellt – rechtswidriges Verhalten zur Verantwortung zu ziehen, verkennt es zudem, dass eine Äußerung nicht schon dann aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, wenn eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich gewesen wäre (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>).
Die fehlende Abwägung wurde auch nicht durch das Landgericht in dem Beschluss nachgeholt, mit dem die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen wurde.
Es ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich verwehrt, die gebotene Abwägung selbst vorzunehmen (vgl. BVerfGK 1, 289 <292>), da sie Aufgabe der Fachgerichte ist, denen dabei ein Wertungsrahmen zukommt. Daher ist mit der Feststellung, dass die angefochtenen Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers verkennen, keine Aussage darüber verbunden, ob die inkriminierte Aussage im konkreten Kontext gemäß § 185 StGB strafbar ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Februar 2017 – 1 BvR 2973/14 -, Rn. 18).
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Fehler. Das ist schon dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht – wie hier – jedenfalls nicht auszuschließen vermag, dass das Amtsgericht bei erneuter Befassung im Rahmen einer Abwägung, die regelmäßig bei der Prüfung des – vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachtenden (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 1998 – 1 BvR 590/96 -, Rn. 23) – § 193 StGB vorzunehmen ist (vgl. BVerfGK 1, 289 <291>), zu einer anderen Entscheidung kommen wird.