Der Europäische Gerichtshof hat am 17.03.222 sein Urteil in der Rechtssache C-232/20 Daimler zum Schutz von Leiharbeitnehmern vor missbräuchlichem Einsatz aufeinander folgender Überlassungen verkündet.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 17.03.2022 ergibt sich:
Ein Leiharbeitnehmer, der zwischen 2014 und 2019 aufgrund wiederholter Verlängerungen insgesamt 55 Monate in der Motorenfertigung bei der Daimler AG im Mercedes-Benz Werk Berlin gearbeitet hat, ohne dass er einen Arbeitnehmer vertreten hätte, macht vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg geltend, dass zwischen ihm und Daimler ein festes Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei.
Das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, mit dem (im Wege einer Änderung) die Leiharbeitsrichtlinie 2008/104 ins deutsche Recht umgesetzt wurde, hat laut dem Landesarbeitsgericht zwar bereits von Anfang an vorgesehen, dass die Überlassung von Arbeitnehmern nur „vorübergehend“ erfolgen könne, doch sei eine maximale Überlassungsdauer, nämlich 18 Monate, erst ab dem 1. April 2017 in das nationale Recht eingeführt worden. Hiervon könne im Rahmen von Tarifverträgen von Tarifvertragsparteien der betreffenden Branche oder im Rahmen einer aufgrund eines solchen Tarifvertrags getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung abgewichen werden. Ebenfalls seit dem 1. April 2017 sehe das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz als Sanktion für den Fall der Überschreitung der maximalen Überlassungsdauer vor, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zu Beginn der vorgesehenen Tätigkeit zustande gekommen gelte.
Allerdings enthalte die Gesetzesänderung von 2017 eine Übergangsvorschrift, nach der bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nur die nach dem 1. April 2017 zurückgelegten Arbeitszeiten berücksichtigt würden. Außerdem sähen der Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 1. Juni 2017 sowie eine Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20. September 2017, die für Daimler gelte, eine maximal zulässige Überlassungsdauer von 36 Monaten vor, die ab dem 1. Juni 2017 bzw. dem 1. April 2017 berechnet werde. Daraus folgt nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts, dass bei einem Arbeitnehmer wie dem hier Betroffenen die Dauer seiner Überlassung bei Daimler nach der geltenden Regelung nicht so angesehen werde, als habe sie die in dieser Regelung vorgesehene Höchstdauer überschritten, obwohl sich diese Überlassung über einen Zeitraum von fast fünf Jahren erstreckt habe. (20, 25, 64)
Vor diesem Hintergrund ist das Landesarbeitsgericht der Meinung, dass die Klage des in Rede stehenden Leiharbeitnehmers, soweit sie auf die Feststellung gerichtet sei, dass ein Arbeitsverhältnis mit Daimler vor dem 1. Oktober 2018 bestanden habe, nur dann in vollem Umfang Erfolg haben könne, wenn das Unionsrecht dies gebiete. (26) Unter diesen Umständen hat das Landesarbeitsgericht dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Mit seinem Urteil von heute antwortet der Gerichtshof dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wie folgt:
- Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „vorübergehend“ der Überlassung eines Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Leiharbeitsunternehmen hat, an ein entleihendes Unternehmen, die zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird, nicht entgegensteht.
- Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 sind dahin auszulegen, dass es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden, falls die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, und im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift. Diese Feststellungen zu treffen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
- Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, wenn sie durch eine Übergangsvorschrift die Berücksichtigung von vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegenden Zeiträumen bei der Berechnung dieser Dauer ausschließt und dem nationalen Gericht die Möglichkeit nimmt, die tatsächliche Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers zu berücksichtigen, um festzustellen, ob diese Überlassung im Sinne der Richtlinie „vorübergehend“ war; dies festzustellen, ist Sache dieses Gerichts. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, ist nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine solche unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen.
- Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass in Ermangelung einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann.
- Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen.
Im Rahmen der zweiten Antwort weist der Gerichtshof u.a. darauf hin, dass die Richtlinie keine Dauer festlege, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden könne. Ebenso wenig würden die Mitgliedstaaten durch die Richtlinie verpflichtet, im nationalen Recht eine solche Dauer vorzusehen. Die Mitgliedstaaten müssten jedoch dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer werde. (RN 56)
Im Rahmen der vierten Antwort führt der Gerichtshof u.a. aus, dass die Richtlinie 2008/104 keine genauen Regeln für die Festlegung der Sanktionen enthalte, sondern es den Mitgliedstaaten überlasse, unter den Sanktionen diejenigen auszuwählen, die zur Erreichung des Ziels der Richtlinie geeignet seien.
Daraus folge, dass ein Leiharbeitnehmer, dessen Überlassung an ein entleihendes Unternehmen unter Verstoß gegen die Richtlinie nicht mehr vorübergehend wäre, aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit diesem Unternehmen ableiten könne.
Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei könne sich jedoch auf die Francovich-Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls vom Staat Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen.