Recht auf Selbstbelastungsfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 25. Januar 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 2462/18 entschieden, dass ein Beschwerdeführer nicht verpflichtet ist, sich selbst zu belasten.

Der Beschwerdeführer ist geschäftsführender Inhaber eines Speditionsunternehmens. Am 20. Oktober 2014 kontrollierte die Verkehrspolizei ein Lastfahrzeug des Unternehmens und stellte dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit Feuerlöschgeräten ausgerüstet war und seit mehr als zwei Jahren keine Nachprüfung eines Kontrollgerätes stattgefunden hatte. Sie untersagte daraufhin die Weiterfahrt des Fahrzeugs und begleitete dieses zu seinem Startpunkt zurück.

Dieselbe Verkehrspolizeiinspektion forderte das Unternehmen des Beschwerdeführers „zur Ermittlung des für den Sachverhalt Verantwortlichen“ mit Anhörungsschreiben vom 15. Dezember 2014 „wegen einer Ordnungswidrigkeit“ beziehungsweise „zur Aufklärung der vorgenannten Ordnungswidrigkeit(en)“ zur Mitteilung auf, wer im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 OWiG die für die Einhaltung der gefahrgutrechtlichen Vorschriften im Betrieb verantwortliche und beauftragte Person sei. Dabei ging die Verkehrspolizei im Hinblick auf die fehlenden Feuerlöscher und das nicht nachgeprüfte Kontrollgerät von der Verwirklichung bußgeldbewehrter Verstöße gegen das Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter (GGBefG), gegen die Gefahrgutverordnung Straße, Eisenbahn und Binnenschifffahrt (GGVSEB), gegen das Gesetz über das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen und Straßenbahnen (FPersG) sowie gegen das Europäische Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR) aus.

Die Verkehrspolizeiinspektion wies darauf hin, dass der Unternehmer oder Inhaber des Betriebs gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 5 GGBefG zur vollständigen und unverzüglichen Auskunftserteilung verpflichtet sei und die Verletzung dieser Auskunftspflicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG mit einer Geldbuße geahndet werden könne. Nach § 9 Abs. 4 GGBefG könne die Auskunft nur auf solche Fragen verweigert werden, deren Beantwortung den zur Erteilung der Auskunft Verpflichteten selbst oder einen ihm nahen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde. Zudem wurde der Beschwerdeführer für den Fall, dass er selbst für die Ordnungswidrigkeiten verantwortlich sein sollte, oder für den Fall, dass der Fragebogen an den verantwortlichen Unternehmensangehörigen weitergegeben worden sei, im Rahmen einer „Betroffenenbelehrung“ gemäß § 55 OWiG darauf hingewiesen, dass es ihm frei stehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. In jedem Fall bestehe aber eine Pflicht zur Beantwortung der Fragen zur Person.

Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Dazu gehört, dass im Rahmen des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Der Beschuldigte beziehungsweise Betroffene muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er mitwirkt.

Aus der Verfassung ergibt sich zwar kein ausnahmsloses Gebot, dass niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbart. Handelt es sich um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung ist aber nur dann zulässig, wenn sie mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot einhergeht. Auch bloße Mitwirkungspflichten verletzen das Verbot der Selbstbelastung nicht, wenn durch sie Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte im Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren nicht berührt werden. Daher schützt das Verbot der Selbstbelastung nicht davor, dass Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berühren, genutzt werden und insoweit die Freiheit des Betroffenen eingeschränkt wird. So betreffen gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten nicht den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit, sondern können zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.

Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist aber ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Die in den jeweiligen Prozessordnungen und sonstigen Gesetzen vorgesehenen Aussageverweigerungsrechte dienen der Verwirklichung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen.

Dies gilt sowohl für die strafprozessuale Aussagefreiheit gemäß §§ 136, 163a, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGE 56, 37 <43>), die gemäß § 46 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet, als auch für das in § 9 Abs. 4 GGBefG normierte Auskunftsverweigerungsrecht. Die in § 9 GGBefG angeordnete behördliche Überwachungsbefugnis und die entsprechenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Verantwortlichen dienen dem Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von der Beförderung gefährlicher Güter ausgehen. Um die Wirksamkeit der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten und damit der Überwachungsmaßnahmen sicherzustellen, ist eine Verweigerung der Auskunftserteilung und Mitwirkung grundsätzlich bußgeldbewehrt. Jedoch darf der zur Auskunft Verpflichtete nach § 9 Abs. 4 GGBefG die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn oder einen nahen Angehörigen der Gefahr straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung aussetzen würde. Damit überträgt die Norm die allgemeinen prozessualen Grundsätze der Zeugenvernehmung auf das Überwachungsverfahren in Bezug auf den an sich auskunftsverpflichteten Verantwortlichen nach § 9 GGBefG. Die Einschränkung der Auskunftspflicht bezieht sich auf Verfahren wegen möglicher Verstöße bei der Beförderung gefährlicher Güter. Deshalb kann der Auskunftspflichtige eine Antwort verweigern, wenn er sich dadurch der Gefahr eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach § 10 Abs. 1 GGBefG aussetzen würde.

Nichts anderes ergibt sich aus der von den Fachgerichten herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1984. Zum einen betraf das damals festgesetzte Bußgeld eine verweigerte Herausgabe von Unterlagen und nicht eine verweigerte Auskunft. Gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten betreffen den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit auch dann nicht, wenn die zu erstellenden oder vorzulegenden Unterlagen auch zur Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen. Vielmehr können solche anderweitigen Mitwirkungspflichten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Zum anderen bestätigt die Entscheidung das nach § 4 Abs. 4 Fahrpersonalgesetz (entspricht § 9 Abs. 4 GGBefG) bestehende Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung den Betroffenen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde. Die weiteren Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bezogen sich auf solche Fragen, mit deren Beantwortung sich der Betroffene nicht selbst belastet.

Im vorliegenden Verfahren verstößt die Verurteilung wegen Nichterteilung einer Auskunft gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.

Der Beschwerdeführer war aufgrund der Gefahr einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfolgung wegen eines vorherigen gefahrgutrechtlichen Verstoßes nicht zur Auskunft über seine Verantwortlichkeit verpflichtet. Denn das polizeiliche Auskunftsersuchen diente nicht der allgemeinen Überwachung von gefahrgutbefördernden Transportunternehmen und war damit nicht präventiv auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerichtet. Vielmehr verfolgte die Polizeiinspektion bereits mit dem ersten Anhörungsschreiben ersichtlich repressive Ziele, namentlich die Verfolgung von zwei zuvor begangenen Ordnungswidrigkeiten. Dies zeigt sich bereits darin, dass schon das erste Anhörungsschreiben vom 15. Dezember 2014 eine Anlage namens „Anhörung wegen einer Ordnungswidrigkeit“ enthielt, das Schreiben den Vorwurf begangener Ordnungswidrigkeiten erhob und eine Belehrung nach § 55 OWiG beigefügt war. Dieses Ordnungswidrigkeitenverfahren richtete sich spätestens mit Schreiben vom 13. Juli 2015 gegen den Beschwerdeführer persönlich, als diesem ein nicht an sein Unternehmen, sondern an ihn persönlich adressiertes Schreiben zur „Anhörung des Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit“ bekanntgegeben wurde, wobei die Belehrung nun mit der Belehrung zu § 55 OWiG begann. Im letzten Anhörungsschreiben vom 21. September 2015 teilte die Polizeiinspektion dem Beschwerdeführer mit, dass er selbst als eingetragener Geschäftsführer für die Verstöße nach dem Gefahrgutrecht angezeigt werde, sollte er nicht die Personalien der beauftragten Person mitteilen. Die Polizeiinspektion zog den Beschwerdeführer folglich nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ernstlich als Täter der verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeiten in Betracht. Darüber hinaus zeigt sich der Verfolgungswille der Polizeiinspektion deutlich in der späteren Realisierung dieser Verfolgungsgefahr, als der Beschwerdeführer zeitgleich nicht nur einen Bußgeldbescheid wegen der verweigerten Auskunft, sondern auch wegen der gefahrgutrechtlichen Verstöße in Bezug auf den Feuerlöscher und das Kontrollgerät erhielt. Durch den Erlass dieses Bußgeldbescheids gab die Polizeiinspektion eindeutig zu erkennen, dass sie den Beschwerdeführer als Verantwortlichen für die gefahrgutrechtlichen Verstöße ansah. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer war daher von Beginn an repressiv auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit gerichtet, sodass der Beschwerdeführer nicht verpflichtet war, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit für die bußgeldbewehrten Verstöße gegen das Gefahrgutbeförderungsgesetz selbst zu bezichtigen. Darüber hinaus war sein Auskunftsverweigerungsrecht in § 9 Abs. 4 GGBefG gesetzlich verankert.

Die Ausübung dieses Rechts darf nicht – wie hier geschehen – mit einer Geldbuße sanktioniert werden, weil hiervon eine nötigende Wirkung ausgeht und der Betroffene andernfalls gezwungen wäre, zur Vermeidung einer (weiteren) Geldbuße auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu verzichten.

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft meint, der Beschwerdeführer habe sich „nur“ im gefahrgutrechtlichen Verfahren in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät, nicht aber im auskunftsrechtlichen Verfahren ausdrücklich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen, greift dieser Einwand nicht durch. Die eindeutige Erklärung des Beschwerdeführers mit E-Mail vom 25. August 2015, von nun an im Hinblick auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu schweigen und keine weiteren Auskünfte mehr zu erteilen, brauchte nicht bei jedem neuen Anhörungsschreiben „aktualisiert“ zu werden. Darüber hinaus bezog sich das Auskunftsverweigerungsrecht auf den gefahrgutrechtlichen Verstoß in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät. In diesem Verfahren hat der Beschwerdeführer berechtigterweise sein Auskunftsverweigerungsrecht ausgeübt.