Organstreitverfahren der AfD-Fraktion gegen Beschlüsse und Gesetzesvorlagen im Zusammenhang mit dem Zweiten Nachtrag zum Staatshaushalt für die Haushaltsjahre 2020/21 und der Kreditaufnahme unter Rückgriff auf die Naturkatastrophenklausel erfolglos

Der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 20.01.2022 zum Aktenzeichen 1 GR 37/21 einen Antrag im Organstreitverfahren der Fraktion der AfD im Landtag von Baden-Württemberg gegen die Landesregierung und den Landtag als unzulässig zurückgewiesen.

Aus der Pressemitteilung des VerfGH BW vom 20.01.2022 ergibt sich:

Die Antragstellerin hatte mit ihrem Antrag geltend gemacht, die Beschlüsse und Gesetzesvorlagen im Zusammenhang mit dem Zweiten Nachtragshaushalt 2020/21 und der Kreditaufnahme unter Rückgriff auf die Naturkatastrophenklausel beeinträchtigten das Budgetrecht des Landtags.

Sachverhalt

Der Landtag von Baden-Württemberg fasste in seiner Sitzung vom 14. Oktober 2020 Beschlüsse über:

  • die Feststellung des Bestehens und Andauerns einer Naturkatastrophe nach Artikel 84 Absatz 3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg sowie § 18 Absatz 6 Satz 2 der Landeshaushaltsordnung für Baden-Württemberg,
  • das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Feststellung einer Naturkatastrophe, der Höhe der Ausnahmekomponente und zur Festlegung eines Tilgungsplans nach § 18 Absatz 6 der Landeshaushaltsordnung für Baden-Württemberg und
  • das Gesetz über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Staatshaushaltsplan von Baden-Württemberg für die Haushaltsjahre 2020/21.

Die Antragstellerin wandte sich mit dem vorliegenden Verfahren gegen die Landesregierung und den Landtag. Sie machte eine Verletzung bzw. Gefährdung des Budgetrechts des Landtags durch die genannten Landtagsbeschlüsse sowie durch das Einbringen des Gesetzesentwurfs über den Zweiten Nachtragshaushalt geltend. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, den Organstreit als Landtagsfraktion in Prozessstandschaft für den Landtag zu führen. Im September und Oktober 2020 habe objektiv keine „Naturkatastrophe“ im Sinne von Art. 84 Abs. 3 Satz 1 und 2 LV vorgelegen, die eine (weitere) Schuldenaufnahme rechtfertige. Zwar komme eine echte Epidemie ohne Weiteres als Naturkatastrophe in Betracht; die Furcht vor den für möglich gehaltenen Folgen der unter Umständen zu besorgenden Ausbreitung einer Krankheit sei jedoch keine Naturkatastrophe im haushaltsrechtlichen Sinn. Die hohen Kosten, die Landesregierung und Landtagsmehrheit beklagten, seien nicht das Ergebnis einer Epidemie, sondern der gegen das mögliche Ausbrechen einer Epidemie bislang ergriffenen Maßnahmen. Selbst wenn eine Naturkatastrophe vorläge, erwiesen sich die angegriffenen Maßnahmen als verfassungswidrig; denn die neu aufzunehmenden Kredite dürften ausschließlich für die Bewältigung dieser Naturkatastrophe verwendet werden und nicht für allgemeine Maßnahmen der Wirtschaftsförderung oder Infrastrukturmodernisierung.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

Der Verfassungsgerichtshof hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen.

Soweit sich die Antragstellerin gegen das Einbringen des Haushaltsentwurfs durch die Landesregierung wende, fehle ihr die erforderliche Antragsbefugnis.

Eine Rechtsverletzung des Landtags sei insoweit von vornherein ausgeschlossen. Die Antragstellerin rüge lediglich den Inhalt der Gesetzesvorlage der Landesregierung und beanstande insbesondere zu hohe Ausgaben und Kreditermächtigungen. Es bestehe jedoch keine Verpflichtung des Landtags, das Haushaltsgesetz in der von der Landesregierung vorgeschlagenen Form zu verabschieden.

Ob und inwieweit die Antragstellerin Rechte des Landtags prozessstandschaftlich auch gegen diesen selbst geltend machen könne, könne hier dahingestellt bleiben.

Die Antragstellerin habe die von ihr geltend gemachte Rechtsverletzung des Landtags durch die angegriffenen Parlamentsbeschlüsse nicht hinreichend substantiiert vorgebracht.

Sie stütze sich im Kern auf die Behauptung, dass zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse des Landtags keine Naturkatastrophe im haushaltsrechtlichen Sinn vorgelegen habe, ohne diese Annahme hinreichend substantiiert zu begründen. Die Antragstellerin setze sich nicht mit dem Begriff und den näheren Voraussetzungen einer „Naturkatastrophe“ im verfassungsrechtlichen Sinne auseinander. Zwar gestehe sie zu, dass auch Massenerkrankungen unter diesen Begriff fallen könnten, entwickle aber keinen normativen Maßstab, anhand dessen das konkrete Vorliegen oder Fehlen einer Naturkatastrophe erkannt werden könne, und frage auch nicht nach etwaigen Einschätzungsprärogativen des Landtags. Die Ausführungen der Antragstellerin übergingen, dass die in Baden-Württemberg ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus auf die Ausrufung der Pandemielage durch die WHO am 11. März 2020 folgten und von einer Vielzahl fachwissenschaftlicher Stellungnahmen insbesondere, aber nicht nur des Robert-Koch-Instituts begleitet worden seien, die sich intensiv mit der Verbreitung und Gefährlichkeit des SARS-CoV-2-Virus befasst hätten und dabei nahezu einhellig zur Annahme einer Pandemie gelangt seien. Ein Antrag auf Einleitung eines Organstreitverfahrens, der nachträglich das Vorliegen einer „Massenepidemie“ in Zweifel ziehe, hätte sich mit dem zum Antragszeitpunkt vorherrschenden Erkenntnisstand in den zuständigen Fachwissenschaften auseinandersetzen müssen und sich nicht auf vereinzelte und selektiv herangezogene Quellen beschränken dürfen.

Auch soweit die Antragstellerin geltend mache, der angegriffene Gesetzesbeschluss über den Zweiten Nachtragshaushalt sei verfassungswidrig, weil die aufgenommenen Mittel der Finanzierung „anderer, coronafremder Ziele“ dienten, fehle es an einer hinreichenden Begründung. In der Antragsschrift werde diese Behauptung nur mit wenigen Worten vorgetragen; insbesondere der pauschale Hinweis auf eine Stellungnahme des Landesrechnungshofes führe nicht weiter.

Schließlich sei die Begründung des Organstreits auch insoweit nicht hinreichend substantiiert, als die Antragstellerin beklage, das Land werde durch den Zweiten Nachtragshaushalt auf Jahrzehnte überschuldet; hier fehle es insbesondere an jeder Auseinandersetzung mit der Regelung des Art. 84 Abs. 3 Satz 6 LV, wonach die Rückführung der bewilligten Ausnahmekredite binnen eines angemessenen Zeitraums zu erfolgen habe.