Öffnungsverbot für Geschäfte über 800 qm rechtswidrig

23. April 2020 -

Das Verwaltungsgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 21.04.2020 zum Aktenzeichen 3 E 1675/20 das Geschäfte mit mehr als 800 Quadratmetern Fläche öffnen dürfen, ohne die Verkaufsfläche entsprechend § 8 Abs.1 Satz 2 der Hamburgischen SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung zu reduzieren.

Nachdem der Verordnungsgeber zunächst aus Gründen eines umfassenden Infektionsschutzes alle Geschäfte, die nicht der unmittelbaren Grundversorgung der Bevölkerung dienen, durch Allgemeinverfügungen und später durch den Erlass der Hamburgischen SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung geschlossen hatte, hat er seine getroffenen Regelungen unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung des Infektionsgeschehens angepasst. Er hält es nunmehr infektionsschutz-rechtlich für vertretbar, Verkaufsstellen des Einzelhandels wieder zu öffnen, um schrittweise zum „Normalzustand“ zurückzukehren, wobei er umfangreiche Maßnahmen in § 8 Abs. 6 bis 8 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungsverordnungange-ordnet hat, um den Infektionsschutz nach Betriebsöffnung zu gewährleisten. Soweit die Antragsgegnerin darüber hinaus Verkaufsstellen mit einer800 m² übersteigen-den Verkaufsfläche von der Öffnungsmöglichkeit ausgenommen hat, ist diese Maßnahme nicht geeignet, dem Zweck des Infektionsschutzes zu dienen. Die Antragsgegnerin selbst geht nicht davon aus und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die in § 8 Abs. 6 bis 8 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungsverordnunggetroffenen Infektionsschutzanordnungen in großflächigen Einzelhandelsgeschäften nicht umgesetzt werden können. Es liegt auf der Hand, dass die für alle für den Publikumsverkehr geöffneten Verkaufsstellen geltenden spezifischen Vorgaben auch in großflächigen Einzelhandelsgeschäften umsetzbar sind, in denen die Möglichkeiten einer physischen Distanzierung zumindest ebenso gut wie in kleineren Einrichtungen oder sogar besser als dort einzuhalten sind.

Nach den Ausführungen der Antragsgegnerin verfolgt sie mit der Beschränkung des Betriebs von Verkaufsstellen des Einzelhandels auf maximal 800m² einen mittelbaren infektionsschutzrechtlichen Zweck. Sie geht dabei davon aus, dass von einem großflächigen Einzelhandelsbetrieb eine hohe Anziehungskraft mit der Folge ausgeht, dass die Straßen so-wie die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs stark frequentiert werden und dadurch die Gefahr der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virussteigt.Auch wenn der Antragsgegnerin, wie oben ausgeführt, bei dem Erlass von Rechtsnormen zur Bewältigung von durch das SARS-CoV-2-Virus entstehenden Gefahren ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Spielraum zusteht, stellt sich die getroffene Einschätzung als beurteilungsfehlerhaft dar. Dem Gericht ist es auch bei Vorliegen eines Beurteilungsspielraums nicht verwehrt, die behördlich vorgenommene Beurteilung und Bewertung des Sachverhalts daraufhin zu überprüfen, ob die Behörde die gesetzlichen Vorgaben für die ihr vom Gesetz übertragene Beurteilungsentscheidung, insbesondere den Sinn und Zweck der Ermächtigung oder den gesetzlichen Rahmen, der vorliegend allein aus § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu entnehmen ist, zutreffend gesehen hat. Dies ist hinsichtlich Sinn und Zweck der Ermächtigung nicht der Fall. Die Differenzierung allein nach der Verkaufsfläche weist nach den Erkenntnissen des Eilverfahrens schon nicht geeignet, den mit ihr verfolgten Zweck zu erreichen. Die Differenzierung allein anhand des Maßes der Verkaufsfläche ist nicht unmittelbar infektionsschutz-rechtlich begründet. Nach den Ausführungen der Antragsgegnerin hat sie die Grenzmarke von 800 m²der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entnommen, wonach Einzelhandelsbetriebe großflächig im Sinne von §11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800m² überschreiten. Das Kriterium einer 800 m² überschreitenden Verkaufsfläche dient einer geordneten Stadtentwicklungsplanung, indem konkretisiert wird, in welchen Plangebieten großflächiger Einzelhandel gebietsverträglich möglich ist. Vor diesem Hintergrund kommt dem Abgrenzungskriterium ein infektionsschutz-rechtlicher Aspekt unmittelbar nicht zu. Für die Annahme der Antragsgegnerin, dass von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine hohe Anziehungskraft für potentielle Kunden mit der Folge ausgeht, dass allein des-halb zahlreiche Menschen die Straßen der Innenstadt und die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs benutzen werden, liegt keine gesicherte Tatsachenbasis vor.

Es ist nicht ersichtlich, dass die von der Antragsgegnerin beschriebene Anziehungskraft ausschließlich oder zumindest im besonderen Maße vom großflächigen Einzelhandel ausgeht. Sie besteht vielmehr unabhängig von der Größe der Verkaufsfläche. Indem sich die Antragsgegnerin dazu entschlossen hat, den Betrieb aller Einzelhandelsgeschäfte bis 800m² wieder zu ermöglichen, ohne über §8 Abs. 6 bis 8 HmbSARS-CoV-2-Eindäm-mungsverordnunghinausgehende weitere regulierende Einschränkungen (z. B. zeitliche Begrenzung der Öffnungszeiten, Sortimentsbeschränkungen) vorzunehmen, besteht die von ihr beschriebene Ansteckungsgefahr bereits jetzt. Die befürchtete Infektionsgefahr, die von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen und dort aufhalten, entsteht im gleichen Maß, wenn die Anziehungskraft von attraktiven und nah beieinander liegenden „kleinen“ Verkaufsstellen des Einzelhandels ausgeht, wie sie für die Hamburger Innenstadt ebenfalls prägend sind. Eine messbare Erhöhung dieser Gefahren durch die zusätzliche Öffnung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben ist nicht erkennbar. Die beschriebene Sogwirkung des großflächigen Einzelhandels folgt außerdem nach Auffassung der Kammer nicht aus der Verkaufsfläche, sondern aus der Attraktivität des Warenangebots. Darüber hinaus ist allein die Verkaufsfläche eines Einzelhandelsgeschäfts bereits deshalb kein Kriterium für seine Anziehungskraft, weil das Erfordernis einer größeren Verkaufsfläche auch durch das angebotene Sortiment bestimmt wird. So werden etwa im Auto- und Möbelhandel sowie bei anderen Waren von erheblicher Größe großflächige Verkaufsstellen erforderlich sein, ohne dass von ihnen eine besondere Anziehungskraft auf eine Vielzahl potentieller Kunden ausgeht. Weiterhin ist nach Auffassung der Kammer die Differenzierung nach der Verkaufsfläche nicht erforderlich, um den mit ihr verfolgten Zweck –Steuerung der Fußgänger dicht beieinander Innenstadt zur Reduzierung der Gefahr von Ansteckungen mit dem SARS-CoV-2-Virus – zu erreichen. Um die Infektionsgefahr zu reduzieren, die durch eine große Zahl von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen, sind mildere Mittel vorhanden. Die Umsetzung des allgemein nach § 1 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungsverordnungeinzuhaltenden Mindestabstands von 1,5 m ist durch den Fußgängerverkehr regelnde Maßnahmen zu er-reichen. Seine Einhaltung kann überwacht und Verstöße können als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. Außerdem bleibt es der Antragsgegnerin auch unbenommen, im Einzelfall aufgrund von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG weitergehende Schutzanordnungen zu erlassen und beispielsweise auch eine Mund-/Nasenbedeckung im öffentlichen Raum einzuführen.

Weiterhin verstößt § 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungsverord-nunggegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dabei kann dahinstehen, ob die Ungleichbehandlung von klein- und großflächigen Einzelhandelsbetrieben anhand einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beurteilen ist oder einer reinen Willkürkontrolle unterliegt. Nach den vorstehenden Ausführungen stellt die Größe der Verkaufsfläche schon kein geeignetes Differenzierungskriterium dar, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.