Der Europäische Gerichtshof hat am 15.07.2021 zum Aktenzeichen C-848/19 P entschieden, dass die Rechtmäßigkeit aller Handlungen der Unionsorgane im Bereich der Energiepolitik der Union anhand des Grundsatzes der Energiesolidarität zu beurteilen ist.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 129/2021 vom 15.07.2021 ergibt sich:
Der Gerichtshof weist das Rechtsmittel Deutschlands gegen das Urteil des Gerichts zurück, mit dem in Anwendung dieses Grundsatzes ein Beschluss der Kommission aus dem Jahr 2016 zur Änderung der Bedingungen für den Zugang zur OPAL-Gasfernleitung für nichtig erklärt worden war.
Die Ostseepipeline-Anbindungsleitung (im Folgenden: OPAL-Gasfernleitung) ist die westliche terrestrische Anbindung der Gasfernleitung Nord Stream 1, die Gas aus Russland nach Europa transportiert und dabei die „traditionellen“ Transitländer wie die Ukraine, Polen und die Slowakei umgeht. Im Jahr 2009 hatte die Europäische Kommission die Entscheidung der Bundesnetzagentur (Deutschland), die OPAL-Gasfernleitung von den Vorschriften der Richtlinie 2003/55 (Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG – ABl. 2003, L 176, S. 57; später ersetzt durch die Richtlinie 2009/73 – Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG ABl. 2009, L 211, S. 94)) über den Zugang Dritter zum Gasfernleitungsnetz (Art. 18 der Richtlinie 2003/55 und Art. 32 der Richtlinie 2009/73) und die Entgeltregulierung (Art. 25 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2003/55) auszunehmen, unter bestimmten Bedingungen genehmigt. Da Gazprom, ein marktbeherrschendes Unternehmen auf dem Gasliefermarkt, eine der Bedingungen der Kommission nie erfüllt hatte, konnte es die OPAL-Gasfernleitung seit ihrer Inbetriebnahme im Jahr 2011 nur zu 50 % ihrer Kapazität nutzen.
Im Jahr 2016 teilte die Bundesnetzagentur nach einem entsprechenden Antrag, der u. a. von Gazprom gestellt worden war, der Kommission ihre Absicht mit, bestimmte Bedingungen der 2009 gewährten Ausnahme zu ändern. Durch die beabsichtigte Änderung sollte im Wesentlichen ermöglicht werden, die OPAL-Gasfernleitung mit ihrer vollen Kapazität zu betreiben, unter der Voraussetzung, dass mindestens 50 % der Kapazität in Auktionen verkauft werden. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2016 genehmigte die Kommission diese Änderung unter bestimmten Bedingungen (Beschluss C(2016) 6950 final der Kommission vom 28. Oktober 2016 zur Überprüfung der nach der Richtlinie 2003/55 gewährten Ausnahme der OPAL-Gasfernleitung von den Anforderungen für den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung – im Folgenden: streitiger Beschluss).
Polen erhob gegen den streitigen Beschluss Nichtigkeitsklage beim Gericht der Europäischen Union. Polen war der Auffassung, dass der Beschluss seine Gasversorgungssicherheit bedrohe, da ein Teil der Erdgasmengen, die zuvor in den mit OPAL konkurrierenden, durch die Staaten Zentraleuropas, darunter Polen, verlaufenden Gasfernleitungen transportiert worden seien, auf den Transportweg Nord Stream 1/OPAL übertragen werde. Das Gericht gab dieser Klage statt und erklärte den streitigen Beschluss wegen Verstoßes gegen den in Art. 194 Abs. 1 AEUV verankerten Grundsatz der Energiesolidarität für nichtig (Urteil vom 10. September 2019, Polen/Kommission – T-883/16). Nach Ansicht des Gerichts hätte die Kommission die Auswirkungen der Änderungen der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgungssicherheit und die Energiepolitik Polens prüfen müssen.
Der mit einem Rechtsmittel Deutschlands gegen diese Entscheidung befasste Gerichtshof (Große Kammer) bestätigt das Urteil des Gerichts und äußert sich zu Natur und Tragweite des Grundsatzes der Energiesolidarität.
Würdigung durch den Gerichtshof
Als Erstes hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach Art. 194 Abs. 1 AEUV die Energiepolitik der Union im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten folgende Ziele verfolgt: Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts, Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und Förderung der Interkonnektion der Energienetze.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Grundsatz der Solidarität einen in mehreren Bestimmungen des EU- und des AEU-Vertrags genannten, tragenden Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der im Energiebereich seine besondere Ausprägung in Art. 194 Abs. 1 AEUV findet. Dieser Grundsatz ist eng mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) verbunden, wonach sich die Union und die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig achten und unterstützen. Da der Grundsatz der Solidarität allen Zielen der Energiepolitik der Union zugrunde liegt, lässt nichts die Annahme zu, dass dieser Grundsatz keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeuge. Vielmehr beinhaltet der Grundsatz der Solidarität Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten, da die Union zur Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten verpflichtet ist und die Mitgliedstaaten zur Solidarität untereinander und gegenüber dem gemeinsamen Interesse der Union.
Hieraus hat der Gerichtshof den Schluss gezogen, dass entgegen dem Vorbringen Deutschlands die Rechtmäßigkeit aller Handlungen der Unionsorgane auf dem Gebiet der Energiepolitik der Union anhand des Grundsatzes der Energiesolidarität zu beurteilen ist, auch dann, wenn das anwendbare Sekundärrecht, im vorliegenden Fall die Richtlinie 2009/73 (Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73), nicht ausdrücklich auf diesen Grundsatz Bezug nimmt. Folglich ergibt sich aus dem Grundsatz der Energiesolidarität in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass die Kommission beim Erlass eines gemäß der Richtlinie 2009/73 (Art. 36 der Richtlinie 2009/73) gefassten Beschlusses zur Änderung einer Ausnahmeregelung eventuelle Risiken für die Gasversorgung auf den Märkten der Mitgliedstaaten prüfen muss.
Als Zweites hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Wortlaut von Art. 194 AEUV die Anwendung des Grundsatzes der Energiesolidarität nicht auf die in Art. 222 AEUV aufgeführten Situationen eines Terroranschlags, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe beschränkt. Vielmehr erstreckt sich der in Art. 194 Abs. 1 AEUV genannte Geist der Solidarität auf alle Maßnahmen der Energiepolitik der Union.
So manifestiert sich die den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten obliegende Pflicht, beim Erlass von Maßnahmen betreffend den Erdgasbinnenmarkt den Grundsatz der Energiesolidarität zu berücksichtigen, indem sie u. a. für die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit der Union Sorge tragen, dadurch, dass sowohl Maßnahmen für Notfallsituationen als auch vorbeugende Maßnahmen erlassen werden. Die Union und die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten in diesem Bereich die betroffenen Energieinteressen abwägen und Maßnahmen vermeiden, die die Interessen der möglicherweise betroffenen Akteure in Bezug auf die Sicherheit und die wirtschaftliche und politische Tragbarkeit der Versorgung sowie die Diversifizierung der Versorgungsquellen beeinträchtigen könnten, um ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und faktischen Solidarität Rechnung zu tragen.
Daher hat der Gerichtshof bestätigt, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hatte, dass der streitige Beschluss für nichtig zu erklären sei, weil er gegen den Grundsatz der Energiesolidarität verstoße.