Das Sozialgericht Stuttgart hat am 10.12.2019 zum Aktenzeichen S 22 R 6202/17 entschieden, dass derjenige keine Rente wegen Erwerbsminderung erhält, dessen Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt lediglich qualitativ für bestimmte Tätigkeiten, nicht aber quantitativ auf weniger als sechs Stunden täglich eingeschränkt ist.
Aus der Pressemitteilung des SG Stuttgart vom 03.08.2020 ergibt sich:
Die 1978 geborene Klägerin bezog seit Oktober 2015 eine befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Ihren Antrag auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung lehnte der beklagte Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Die Klägerin könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zwar mindestens drei Stunden täglich, nicht aber mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Sie sei daher nicht voll, sondern nur teilweise erwerbsgemindert. Gegen die Ablehnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung erhob die Klägerin vor dem SG Stuttgart Klage. Sie hielt sich für erwerbsgemindert, da sie jeden Tag überall Schmerzen habe.
Das SG Stuttgart hat die Klage als unbegründet abgewiesen.
Nach Auffassung des Sozialgerichts ist die Klägerin nicht erwerbsgemindert. Die bestehende chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren schränke ihr Leistungsvermögen nur qualitativ ein. Es seien ihr nur noch körperliche Tätigkeiten ohne längeres Stehen und Gehen, ohne Heben von Lasten über 10 kg, ohne Arbeiten in Zwangshaltungen, ohne häufiges Bücken und ohne Nachtschicht zumutbar. Eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die diesen qualitativen Einschränkungen Rechnung trage, könne die Klägerin dagegen noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Das Risiko, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich einen solchen Arbeitsplatz zu erhalten, sei nicht von der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern von der Arbeitslosenversicherung zu tragen. Für eine Erwerbsminderungsrente komme es nur darauf an, ob eine vollschichtige Tätigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts möglich sei.
Gegen eine Einschränkung des zeitlichen Leistungsvermögens der Klägerin sprächen erstens die erhobenen psychischen Untersuchungsbefunde. Zweitens zeigten der strukturierte Tagesablauf und die Freizeitgestaltung der Klägerin ihre fortdauernde Fähigkeit zum Zeitmanagement, ihre vorhandenen sozialen und Alltagskompetenzen sowie die erfolgreiche Ausübung ihrer Führungs- und Kontrollfunktion. Die festgestellten Aktivitäten des täglichen Lebens wichen deutlich von den Einschränkungen ab, die aufgrund der von der Klägerin als ausgeprägt beschriebenen Beschwerden zu erwarten wären. Drittens spreche die fehlende Therapie der psychiatrischen Gesundheitsstörungen der Klägerin gegen eine dauerhafte Einschränkung ihres beruflichen Leistungsvermögens auf weniger als sechs Stunden pro Tag. Ein multimodales Schmerztherapieprogramm gelte als nicht umgesetzt. Die geringe schmerztherapeutische Behandlungsfrequenz spreche gegen das Vorliegen dauerhaft nicht zu bewältigender Schmerzzustände. Die Klägerin habe bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine Psychotherapie unternommen. Die von der Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung behauptete wöchentliche Verhaltenstherapie reiche mit Blick darauf, dass diese Therapie erst vor kurzer Zeit begonnen worden sei, nicht aus, um das Sozialgericht davon überzeugen zu können, dass eine Besserung der Beschwerden in absehbarer Zeit durch das Erlernen von Bewältigungsstrategien ausgeschlossen sei. Auch medikamentös sei die Klägerin nicht austherapiert. Der Verzicht der Klägerin auf ein konsequentes Ausschöpfen aller Therapiemöglichkeiten zeige, dass ihre Schmerzen ein solches Ausmaß hätten, dass sie auch ohne entsprechende ärztliche, therapeutische und medikamentöse Eingriffe im Alltag ausgehalten und bewältigt werden könnten.
Die Berufung ist anhängig.