Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. Januar 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 946/19 entschieden, dass gerichtliche Entscheidungen zur Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten für die Geltendmachung von Ansprüchen gegen ein Luftfahrtunternehmen verfassungswidrig sind.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein amtsgerichtliches Urteil, mit dem eine Klage der Beschwerdeführer auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten für die Geltendmachung von Ansprüchen gegen ein Luftfahrtunternehmen wegen Flugverzögerung abgewiesen worden ist.
Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts vom 12. Dezember 2018 verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführer auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, soweit das Amtsgericht die Berufung nicht zugelassen und dadurch eine maßgebliche verfahrensrechtliche Vorschrift in unhaltbarer Weise gehandhabt hat.
Für die Nichtzulassung der Berufung fehlt es an einer nachvollziehbaren Begründung durch das Amtsgericht.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann, oder wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren Interessen in besonderem Maße berühren und ein Tätigwerden des Rechtsmittelgerichts erforderlich machen. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage zweifelhaft ist, also über Umfang und Bedeutung einer Rechtsvorschrift Unklarheiten bestehen. Derartige Unklarheiten bestehen unter anderem, wenn die Rechtsfrage vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden ist und von einigen Obergerichten unterschiedlich beantwortet wird, oder wenn in der Literatur hierzu unterschiedliche Meinungen vertreten werden.
Nach diesen Maßstäben stellte sich im Ausgangsverfahren eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Amtsgerichts höchstrichterlich nicht geklärt war.
Da Flugreisen Massengeschäfte sind, ist eine unbestimmte Vielzahl von Fällen betroffen. Flugannullierungen sind keine Seltenheit. Deshalb ist insbesondere auch die Frage zu klären, ob jeder Verbraucher seine Rechte kennt oder kennen muss.
Zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung war in der Rechtsprechung die abstrakte Rechtsfrage, ob vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten für die Geltendmachung eines Ausgleichsanspruchs erstattungsfähig sind, wenn das Luftverkehrsunternehmen den Fluggast nicht vollständig und klar darüber unterrichtet hat, unter welchen Voraussetzungen, in welcher Höhe und gegen welches Unternehmen er einen solchen Anspruch geltend machen kann, umstritten. Einerseits wurde die Erstattungsfähigkeit derartiger Rechtsanwaltskosten bejaht.
Eine abschließende höchstrichterliche Klärung dieser Rechtsfrage lag im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung nicht vor.
Der Bundesgerichtshof hatte zwar mit Urteil vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 – entschieden, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen die Kosten für einen vom Fluggast mit der erstmaligen Geltendmachung einer Ausgleichsleistung wegen Annullierung oder großer Verspätung beauftragten Rechtsanwalt nicht zu erstatten brauche, wenn es die in Art. 14 Abs. 2 FluggastrechteVO vorgesehenen Informationen erteilt habe. Für den umgekehrten Fall, in dem die erteilten Instruktionen lückenhaft, unverständlich oder sonst so unklar sind, dass der Fluggast nicht sicher erkennen kann, was er tun muss, hatte der Bundesgerichtshof im Rahmen dieser Entscheidung jedoch nur ausgeführt, dass sich die Frage der Erstattungsfähigkeit für die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe bei der ersten Geltendmachung des Anspruchs durchaus in anderem Licht darstellen könne .
Eine Zulassung der Berufung zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (§ 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Var. 3 ZPO) ist geboten, wenn die angefochtene Entscheidung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts, von einer gleichrangigen Entscheidung eines anderen Spruchkörpers desselben Gerichts oder von der Entscheidung eines anderen gleichgeordneten Gerichts abweicht. Eine Abweichung liegt vor, wenn die angefochtene Entscheidung ein und dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet als die Vergleichsentscheidung, also einen Rechtssatz aufstellt, der von einem die Entscheidung tragenden Rechtssatz der Vergleichsentscheidung abweicht.
Die angegriffene Entscheidung steht im Gegensatz zur Beantwortung der abstrakten Rechtsfrage nach der Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten für die vorgerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen bei unzureichender Information durch das Luftfahrtunternehmen über die Rechte nach der FluggastrechteVO durch mehrere Amts- und Landgerichte, sodass Divergenz im strengen Sinne vorliegt.
Eine den Grundrechten der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG widersprechende Handhabung der Zulassungsvorschriften durch das Amtsgericht ergibt sich aus der unzureichenden Begründung der angefochtenen Entscheidung.
Lag nach dem oben Ausgeführten die Zulassung eines Rechtsmittels objektiv nahe, und finden sich weder in der Entscheidung noch anderweitig Anhaltspunkte dafür, aufgrund welcher – die Nichtzulassung möglicherweise sachlich rechtfertigenden – Überlegungen das Gericht von der Zulassung abgesehen hat, ist im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einer Entscheidung, gegen die eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht eröffnet ist, grundsätzlich von einer verfassungswidrigen Nichtzulassung auszugehen. Darin liegt kein Widerspruch zu dem Grundsatz, dass letztinstanzliche Entscheidungen von Verfassungs wegen nicht begründet werden müssen. Ist gegen die Entscheidung des Gerichts die Nichtzulassungsbeschwerde nicht eröffnet und lag zugleich die Zulassung des Rechtsmittels nahe, bedarf es einer nachvollziehbaren Begründung oder anderweitiger Anhaltspunkte für die Nichtzulassung. Sind der Entscheidung solche sachlichen Gründe nicht zu entnehmen, ist grundsätzlich der Schluss gerechtfertigt, das Gericht habe sich in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise der Kontrolle durch das in der Instanz folgende Gericht entzogen.
Der Entscheidung des Amtsgerichts vom 12. Dezember 2018 ist keine sachliche Begründung für die Nichtzulassung zu entnehmen.
Die Wiedergabe der Zulassungsvorschriften des § 511 Abs. 4 ZPO hat keinen sachlichen Gehalt. Dies gilt ebenso für die Feststellung, dass es sich um eine Anwendung von §§ 280, 249 BGB handelt. Soweit das Amtsgericht sodann anführt, dass der Bundesgerichtshof insoweit bereits in NJW 1995, Seite 446 sowie mit Urteil vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 – Stellung bezogen habe, genügt dies dem sich hier aufdrängenden weitergehenden Erörterungsbedarf nicht. Die Begründung lässt vielmehr erkennen, dass sich das Amtsgericht nicht hinreichend mit den Ausführungen der Beschwerdeführer und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auseinandergesetzt hat. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 – nicht korrekt nachvollzogen wird. Denn in diesem Urteil wird ausgeführt, dass vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten – unabhängig von einer vorherigen In-Verzug-Setzung – grundsätzlich bei Ansprüchen auf Ausgleichszahlungen nach der FluggastrechteVO ersatzfähig seien, soweit die Inanspruchnahme des Rechtsanwalts aus Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig gewesen sei. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, wenn die Fluggesellschaft ihren Informationspflichten nach Art. 14 Abs. 2 FluggastrechteVO nachgekommen sei. Anders könne es sich aber verhalten, wenn die durch die Fluggesellschaft erteilten Instruktionen lückenhaft, unverständlich oder sonst unklar seien, sodass der Fluggast nicht sicher erkennen könne, was er tun müsse. Demzufolge war gerade nicht abschließend geklärt, in welchen Fällen der Bundesgerichtshof die Kosten für die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe bei der ersten Geltendmachung des streitgegenständlichen Anspruchs für erstattungsfähig erachtet, wenn gegen die Informationspflichten verstoßen wurde.
Zudem wiesen die Beschwerdeführer schon in der Klageschrift auf die abweichende Rechtsansicht verschiedener Amtsgerichte sowie das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 – hin. Nach dem Hinweis des Amtsgerichts, dass die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nur unter den Voraussetzungen des Verzugs erstattungsfähig seien, führten die Beschwerdeführer weitere entgegenstehende Rechtsprechung verschiedener Amtsgerichte an. In der Replik gingen sie nochmals auf entgegenstehende Rechtsprechung ein. Einige dieser Entscheidungen ergingen auch erst nach Erlass des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 -.
Das Amtsgericht zitierte in der angegriffenen Entscheidung dennoch nur amtsgerichtliche Rechtsprechung, die vor dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016 – X ZR 35/15 – ergangen ist.
Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführer in zwei Schriftsätzen explizit die Zulassung der Berufung beantragten. Auch dies legte nahe, die Nichtzulassung des Rechtsmittels nachvollziehbar zu begründen.
Sachliche Gründe sind auch dem Beschluss des Amtsgerichts vom 5. Februar 2019 über die Zurückweisung der Anhörungsrüge nicht zu entnehmen.
Dort erläuterte das Amtsgericht, dass eine Entziehung des gesetzlichen Richters nicht gegeben sei, da sich das Gericht ausweislich Ziffer III des Urteils auch mit der Frage der Zulassung der Berufung beschäftigt habe. Diese Aussage lässt jedoch keine nachvollziehbare Erklärung dafür erkennen, warum die Berufung nicht zugelassen wurde.