Der Bayerische Verfassungsgerichtshof in München hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen Vf. 110-VII-20 entschieden, dass die in Bayern geltende nächtliche Ausgangssperre voraussichtlich verfassungsgemäß ist und daher nicht außer Vollzug gesetzt wird.
Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 18.12.2020 ergibt sich:
Die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassene Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV) vom 15.12.2020 enthält in § 3 folgende Regelung:
„Landesweit ist von 21 Uhr bis 5 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung untersagt, es sei denn dies ist begründet aufgrund 1. eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls oder anderer medizinisch unaufschiebbarer Behandlungen, 2. der Ausübung beruflicher oder dienstlicher Tätigkeiten oder unaufschiebbarer Ausbildungszwecke, 3. der Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts, 4. der unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen und Minderjähriger, 5. der Begleitung Sterbender, 6. von Handlungen zur Versorgung von Tieren oder 7. von ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen.“
Der Antragsteller macht geltend, diese Regelung greife in unverhältnismäßiger Weise in die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 102 Abs. 1 BV) und der Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 Satz 1 BV) ein, sei „inkonsequent“ und „paradox“ sowie „unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten jedenfalls bedenklich“. Zugleich will er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erreichen, dass die Vorschrift sofort außer Vollzug gesetzt wird.
Der VerfGH München hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs kann bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen überschlägigen Prüfung weder von offensichtlichen Erfolgsaussichten noch von einer offensichtlichen Aussichtslosigkeit des § 3 der 11. BayIfSMV betreffenden Hauptantrags im Popularklageverfahren ausgegangen werden.
Infolge des im Vergleich zur Fachgerichtsbarkeit eingeschränkten Prüfungsumfangs des Verfassungsgerichtshofs lasse sich nicht feststellen, dass § 3 wegen des Fehlens einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage oder wegen einer Abweichung von den Vorgaben der bundesrechtlichen Ermächtigung gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) verstoße. Es sei weder offensichtlich, dass die vom Verordnungsgeber herangezogenen Rechtsgrundlagen (§ 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 des Bundesinfektionsschutzgesetzes – IfSG) ihrerseits verfassungswidrig wären, noch dass die Ermächtigungsgrundlage im Hinblick auf ihre Reichweite die angegriffene Bestimmung nicht trüge. Insbesondere sei davon auszugehen, dass die Maßnahme in § 3 („Nächtliche Ausgangssperre“) eine „Ausgangsbeschränkung“ im öffentlichen Raum i.S.d. § 28 a Abs. 1 Nr. 3 IfSG darstelle.
Ebenso wenig sei festzustellen, dass § 3 der 11. BayIfSMV offensichtlich ein Freiheitsgrundrecht der Bayerischen Verfassung verletze. Es stehe außer Frage, dass Vorschriften der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – zum Teil ganz erheblich – in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten der Bayerischen Verfassung eingreifen. Das mache die Maßnahmen aber nicht von vornherein verfassungswidrig. Für eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sprechen angesichts der Gefahren, die ein ungehindertes Infektionsgeschehen für Leib und Leben der Menschen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems mit sich bringen könne, gute Gründe. Das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 102 Abs. 1 BV) sei nicht einschlägig. Eine – auch bußgeldbewehrte – Pflicht, die Wohnung nicht ohne bestimmte Gründe zu verlassen, falle nicht in den Schutzbereich dieses Rechts.
Das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 BV), welches nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze gewährleistet sei, sei ebenso wenig offensichtlich verletzt. Hintergrund der mit der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung teilweise erheblich verschärften Bestimmungen sei eine besorgniserregende Entwicklung des Infektionsgeschehens. Es sei nicht erkennbar, dass dem Normgeber, der nach Art. 99 Satz 2 Halbsatz 2 BV verpflichtet sei, die personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zu schützen, mildere, aber gleichermaßen wirksame Mittel zur Verfügung gestanden hätten, um in den geregelten Bereichen die Infektionsgefahr zu minimieren und damit der weiteren Ausbreitung der Pandemie entgegenzuwirken. Ferner sei jedenfalls nicht offensichtlich, dass die durchaus erheblichen Beeinträchtigungen, die durch § 3 der 11. BayIfSMV bewirkt werden, in der Abwägung zu dem hohen Schutzgut von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen außer Verhältnis stünden. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Verordnungsgeber in § 3 Nr. 1 bis 6 der 11. BayIfSMV ausdrücklich Ausnahmen und mit der Anführung von „ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen“ (Nr. 7) eine Generalklausel normiert habe, die Härtefälle verhindern könne. Außerdem ermögliche § 26 der 11. BayIfSMV, dass Kreisverwaltungsbehörden im Einvernehmen mit der zuständigen Regierung erleichternde Abweichungen von den Bestimmungen dieser Verordnung durch Allgemeinverfügung zulassen, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt der Inzidenzwert von 50 Neuinfektionen mit dem Coronavirus je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen nicht überschritten werde und die Entwicklung des Inzidenzwerts eine sinkende Tendenz habe.
Dass der Verordnungsgeber offensichtlich gegen den Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV) verstoßen hätte, sei nicht festzustellen. Insbesondere führten die Einwände, wonach Menschen je nach beruflicher Tätigkeit, Auslastung im Alltag und Schlafrhythmus unterschiedlich hart von der „Ausgangssperre“ betroffen würden, nicht offensichtlich zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung.
Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Auch wenn § 3 der 11. BayIfSMV gegenüber früheren Verordnungen teilweise erhebliche Verschärfungen enthalte, müssten die Belange der von der Vorschrift Betroffenen gegenüber der fortbestehenden und in jüngerer Zeit wieder erheblich gestiegenen Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einer einzelnen Verordnungsbestimmung würde die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts beeinträchtigen.