Der Europäische Gerichtshof hat am 31.03.2022 zum Aktenzeichen C-472/20 entschieden, dass die unverbindliche Stellungnahme eines Obersten Gerichtshofs, mit der den untergeordneten Gerichten vorgegeben wird, wie sie vorzugehen haben, um einen Vertrag für gültig zu erklären, wenn dieser Vertrag aufgrund der Missbräuchlichkeit einer seinen Hauptgegenstand betreffenden Klausel nicht fortbestehen kann, nicht ausreicht, um einen umfassenden Schutz für die durch diese Klausel verletzten Personen sicherzustellen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 55/2022 vom 31.03.2022 ergibt sich:
Ist der Vertrag ungültig und eine Wiederherstellung des Zustands vor Vertragsabschluss unmöglich, muss das nationale Gericht das vertragliche Gleichgewicht zwischen den Parteien wiederherstellen, jedoch ohne über das hinauszugehen, was hierfür unbedingt erforderlich ist, so der EuGH.
Im Dezember 2009 schloss ein Verbraucher mit der Rechtsvorgängerin von Lombard Lízing, einem Finanzinstitut ungarischen Rechts, einen Kreditvertrag, um sich ein Fahrzeug zu kaufen. Dieser Vertrag lautete auf Schweizer Franken (CHF). Die monatlichen Tilgungsraten wurden jedoch in ungarische Forint (HUF) umgerechnet. Dadurch unterlag der Vertrag einem Risiko in Bezug auf die Entwicklung des Wechselkurses zwischen HUF und CHF, das gemäß dem Vertrag vom Kreditnehmer zu tragen war.
Der Kreditnehmer berief sich in einem vor ungarischen Gerichten anhängigen Rechtsstreit zwischen ihm und Lombard Lízing auf die Missbräuchlichkeit der Klauseln des fraglichen Kreditvertrags, mit denen ihm das gesamte Wechselkursrisiko auferlegt werde. Zudem seien diese Klauseln nicht klar und verständlich gewesen. Nach ungarischem Recht kann ein auf Fremdwährung lautender Kreditvertrag mit einer missbräuchlichen Klausel jedoch nur für unwirksam erklärt werden, wenn das die Unwirksamkeit erklärende Gericht auch die Rechtsfolgen dieser Unwirksamkeit anwendet. Diese Rechtsfolgen können sowohl darin bestehen, dass der Vertrag für gültig erklärt wird, als auch darin, dass das Fortbestehen seiner Wirkungen bis zum Erlass der Entscheidung über die Unwirksamkeit festgestellt wird.
Zu diesen Folgen der Unwirksamkeit des Vertrages hat der Beratungsausschuss der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) im Juni 2019 eine unverbindliche Stellungnahme verfasst, die den untergeordneten Gerichten vorgibt, wie sie vorzugehen haben. Gemäß dieser Stellungnahme können diese Gerichte den Vertrag entweder in der Form für gültig erklären, dass er als auf HUF lautend gilt, und dabei einen Zinssatz anwenden, der demjenigen entspricht, der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses für Transaktionen in HUF galt, zuzüglich des erhobenen Aufschlags. Oder sie können den Vertrag für gültig erklären und dabei den Wechselkurs zwischen Fremdwährung und HUF möglichst hoch ansetzen, wobei der mit dieser Fremdwährung verbundene, im Vertrag vereinbarte Zinssatz als solcher unverändert bleibt.
Der im Rechtsmittelverfahren mit dem Rechtsstreit befasste Fovárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) möchte vom Gerichtshof wissen, ob die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen1 einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der der Beratungsausschuss des Obersten Gerichtshofs für die untergeordneten Gerichte eine unverbindliche Stellungnahme mit Leitlinien zu den Folgen der Unwirksamkeit eines solchen eine missbräuchliche Klausel enthaltenden Vertrages verfasst. Für den Fall, dass eine solche Praxis mit der Richtlinie unvereinbar sein sollte, möchte das ungarische Gericht zudem wissen, ob die Richtlinie ihm unter den konkreten Umständen die Wiederherstellung des Zustands erlaubt, der vor dem Vertragsabschluss zwischen den Parteien bestand.
Mit seinem Urteil vom 31.03.2022 weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie grundsätzlich dem nicht entgegensteht, dass ein Oberster Gerichtshof eines Mitgliedstaats verbindliche Entscheidungen zu den Modalitäten der Umsetzung dieser Richtlinie erlässt. Überdies kann das nationale Gericht eine missbräuchliche Klausel wegfallen lassen und sie durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts ersetzen, wenn die Ungültigerklärung der missbräuchlichen Klausel das Gericht zwingen würde, den Vertrag insgesamt für nichtig zu erklären.
Mangels einer solchen dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts kann jedoch eine unverbindliche Stellungnahme eines Obersten Gerichtshofs eines Mitgliedstaats, die den untergeordneten Gerichten, die dieser folgen sollten, damit die Möglichkeit lässt, von ihr abzuweichen, nicht als geeignet angesehen werden, um die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sicherzustellen, mit der für die durch eine missbräuchliche Klausel verletzten Personen ein umfassender Schutz gewährleistet werden soll.
Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass für den Fall, dass eine den Hauptgegenstand des Vertrags betreffende Klausel für missbräuchlich erklärt werden muss, die Richtlinie dem nicht entgegensteht, dass das nationale Gericht für die Vertragsparteien wieder den Zustand herstellt, der für sie bestanden hätte, wenn dieser Vertrag nicht abgeschlossen worden wäre. Sollte diese Wiederherstellung sich jedoch als unmöglich erweisen, hat das nationale Gericht dafür zu sorgen, dass der Verbraucher letztlich so gestellt ist, als hätte es die für missbräuchlich erklärte Klausel nie gegeben.
In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof klar, dass die Interessen des Verbrauchers im vorliegenden Fall u. a. dadurch geschützt werden könnten, dass ihm die vom Kreditgeber aufgrund der für missbräuchlich erklärten Klausel rechtsgrundlos vereinnahmten Beträge zurückgezahlt werden. Was eine etwaige Umwandlung des auf Fremdwährung lautenden Kreditvertrags in einen auf HUF lautenden Vertrag durch das nationale Gericht angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass die Befugnisse des Gerichts nicht über das hinausgehen dürfen, was unbedingt erforderlich ist, um das vertragliche Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien wiederherzustellen und so den Verbraucher vor den besonders nachteiligen Folgen zu schützen, die die Nichtigerklärung des betreffenden Kreditvertrags nach sich ziehen könnte.
1 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).