Das Landgericht Duisburg hat am 04.05.2020 zum Aktenzeichen 36 KLs 10/17 das Loveparade-Strafverfahren gegen die drei verbliebenen Angeklagten eingestellt und seine Erkenntnisse über die Ursachen der Katastrophe in Duisburg im Jahr 2010 erläutert.
Aus der Pressemitteilungen des LG Duisburg vom 04.05.2020 ergibt sich:
Die Veranstaltung Loveparade fand am 24.07.2010 auf dem Gelände des ehemaligen Hauptgüter- und Rangierbahnhofs in Duisburg statt. Das Unglück geschah an einer Engstelle im Zugangsbereich der Loveparade, wo es zu einem Gedränge unter den Besuchern gekommen war. Unter den Besuchern brach eine Massenpanik aus. Es kamen 21 Menschen ums Leben und es gab mehr als 650 Verletzte. Mit dem Beschluss des Landgerichts endet das Strafverfahren nach 183 Verhandlungstagen.
Das LG Duisburg hat den Verfahrensbeteiligten, insbesondere den Nebenklägern, die im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse über die Gründe für das Unglück in einem Termin erläutert. In der Regel werden Einstellungsbeschlüsse nicht begründet. Den Richtern war es aber ein besonderes Anliegen, gerade für die Verletzten und Hinterbliebenen Aufklärungsarbeit zu leisten, die über die den Strafprozess bestimmende Frage nach der Schuld der Angeklagten hinausweist. Deshalb haben sie detailliert geschildert, was sich nach ihren Erkenntnissen von den Anfängen der Planung bis zum Ende des Unglückstages zugetragen haben könnte.
Dabei stützten sich die Richter auf die Beweisaufnahme und den Inhalt der Akten. Namentlich haben sie das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Gerlach vollumfänglich berücksichtigt. Als wesentliche zusammenwirkende Ursachen für die Katastrophe haben sie benannt:
- Einen Veranstaltungsort, der für das Veranstalterkonzept und die erwarteten und auch die tatsächlichen Besuchermengen nicht geeignet war,
- Zugangsanlagen, die für die erwartete Besucheranzahl zu geringe Kapazität hatten,
- zu wenig Fläche zwischen dem Zugang (über die Rampe Ost) auf das Gelände und der Fläche, auf der die Musikwagen fuhren,
- die unkoordinierte Steuerung der Personenströme,
- die massiven Störungen in der Kommunikation, die notwendige Absprachen teilweise unmöglich machten,
- die fehlende Abstimmung von Maßnahmen wegen des Rückstaus vor den Zugangsbereichen sowie zwischen dem Zugang auf das Gelände und der Fläche mit den Musikwagen,
- organisatorische Entscheidungen am Veranstaltungstag entgegen vorheriger Absprachen,
- die Errichtung der (dritten) Polizeikette auf der Rampe Ost, die die Drucksituation auf der Rampe verstärkt hat,
- das nicht abgestimmte Öffnen der Zugangsanlagen trotz angeordneter Schließung,
- das Öffnen der Zaunelemente an der Zugangsanlage West um 16:31 Uhr.
Nach den Ausführungen des Landgerichts hätte das Unglück auch am Veranstaltungstag noch durch eine Reihe von Maßnahmen verhindert oder zumindest in den Folgen abgemildert werden können, so etwa durch
- eine zwischen dem Veranstalter und der Polizei abgestimmte Steuerung der Personenströme und/oder
- koordinierte Maßnahmen wie zeitweilige Schließungen der Vorsperren oder der Zugangsanlagen und/oder
- den verstärkten Einsatz von Ordnern, um Personen von der Rampe weg zu leiten und auf das eigentliche Veranstaltungsgelände zu führen und/oder
- ein vorübergehendes Anhalten der Musikwagen auf der Paradestrecke, um besseren Personenfluss auf das Gelände zu ermöglichen und/oder
- den Abbruch des Besucherzuflusses auf das Gelände und/oder
- den Abbruch des Besucherzuflusses in die Stadt Duisburg insgesamt (Stopp des Bahnverkehrs).
Nach den Ausführungen des LG Duisburg dürfte das Zusammenwirken einer Vielzahl von Umständen dazu geführt haben, dass es zu dem Gedränge mit dem tödlichen Verlauf gekommen ist.
Unter Gesamtwürdigung dieser Erkenntnisse und aller Umstände der Katastrophe kommt das LG Duisburg trotz der schwerwiegenden Folgen der Tat zu dem Schluss, dass die (mögliche) individuelle Schuld der Angeklagten an der Katastrophe zum jetzigen Zeitpunkt als gering anzusehen sei. Deshalb soll das Verfahren gegen sie nicht weitergeführt werden.
Nach Einschätzung des Landgerichts wäre für den möglichen Fall einer Verurteilung Folgendes zu berücksichtigen: Die Handlungen der Angeklagten haben die schrecklichen Geschehnisse nicht allein, sondern erst im Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer Umstände möglich gemacht.
Aus der Beweisaufnahme ist ersichtlich, dass die Angeklagten sich in der Planungsphase darum bemühten, eine für die Besucher sichere Veranstaltung zu organisieren. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Angeklagten seit fast zehn Jahren einem Strafverfahren ausgesetzt sind, das besonders großes mediales Interesse hervorgerufen hat. Zudem mussten sie sich an 183 Verhandlungstagen einer öffentlichen Hauptverhandlung stellen. Das ganze Verfahren war v.a. für die Nebenkläger mit besonderen psychischen Belastungen verbunden. Aber auch die Angeklagten waren durch die lange Verfahrensdauer Belastungen ausgesetzt.
Aus diesen Gründen hält es das Landgericht für geboten, das Verfahren nach § 153 StPO einzustellen.
Zahlen, Daten und Fakten zum Loveparade-Strafverfahren
Der Beschluss bildet das Ende einer Hauptverhandlung, die am 08.12.2017 begonnen hatte und an insgesamt 183 Hauptverhandlungstagen geführt wurde. Das Landgericht hat in der Hauptverhandlung neben einer Reihe von Sachverständigen insgesamt 116 Zeugen vernommen, v.a. Verletzte, Mitarbeiter der Stadt Duisburg, des Veranstalters der Loveparade, der Polizei und der Feuerwehr.
Dabei stand dem LG Duisburg umfangreiches Aktenmaterial zur Verfügung. Allein die Hauptakte hatte am Schluss einen Umfang von mehr als 60.000 Seiten. Hinzu kommen mehr als 1.000 Aktenordner mit ergänzendem Aktenmaterial und knapp 1.000 Stunden an Videomaterial.
An der Hauptverhandlung haben zu Beginn zehn Angeklagte teilgenommen, die von 32 Rechtsanwälten verteidigt wurden, sowie mehr als 60 Nebenkläger mit 37 Nebenklageanwälten. Auf Seiten des Landgerichts waren neben dem Vorsitzenden Richter zwei beisitzende Richter und drei (ab Januar 2019 noch zwei) Ergänzungsrichter und neben den beiden Schöffen weitere fünf Ergänzungsschöffen an jedem Verhandlungstag anwesend. Drei Staatsanwälte haben in der Regel die Anklage vertreten.
Für die Verhandlung hat die Messe Düsseldorf das Congress Centrum Düsseldorf Ost (CCD Ost) in einen mobilen Gerichtssaal mit modernster Technik umgebaut sowie Technik- und Servicepersonal, Sanitäter und Brandwachen zur Verfügung gestellt. Die durchschnittlichen Kosten für die Räumlichkeiten und das Personal haben sich anfänglich auf ca. 29.000 Euro pro Verhandlungstag belaufen und ab Juni 2018 auf ca. 26.000 Euro reduziert. Seit Mai 2019 betrug die Saalmiete einschließlich Zusatzkosten durchschnittlich 22.000 Euro pro Verhandlungstag. Das beruht darauf, dass mit der Zeit die Kosten für externes Sicherheitspersonal, Technik, Sanitäter oder Brandwachen reduziert werden konnten.
Die Gesamtkosten des Verfahrens lassen sich derzeit noch nicht exakt beziffern. Zu diesen Kosten zählen die Entschädigungen für die 116 vernommenen Zeugen sowie sämtliche Sachverständigen, aber auch die Gebühren der Verteidiger und nahezu aller Nebenklagevertreter. Diese Kosten werden erst in einem späteren Verfahren – dem Kostenfestsetzungsverfahren – bestimmt.
Die Landesregierung hat zugesagt, eine Kostenübernahme im Wege der Opferentschädigung für diejenigen Nebenkläger zu prüfen, die nach dem Gesetz ihre Kosten selber tragen müssen.