Generalanwalt Athanasios Rantos macht in seinen Schlussanträgen im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Verfahren C-267/20 zum Lkw-Kartell in Spanien nähere Ausführungen zum zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie über die Entschädigung der Opfer wettbewerbswidriger Praktiken.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 193/2021 vom 28.10.2021 ergibt sich:
Am 19. Juli 2016 stellte die Europäische Kommission fest, dass mehrere Hersteller von Lastkraftwagen (im Folgenden: Lkw), darunter AB Volvo und DAF Trucks, von 1997 bis 2011 an einem Kartell beteiligt waren, das sich u. a. auf die Preise der Lkw bezog (Beschluss C(2016) 4673 final der Kommission vom 19. Juli 2016 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw, eine Zusammenfassung dieses Beschlusses wurde im Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. April 2017 (ABl. 2017, C 108, S. 6) veröffentlicht).
RM, der in den Jahren 2006 und 2007 drei von diesen beiden Unternehmen hergestellte Lkw erworben hatte, erhob am 1. April 2018 bei einem spanischen Gericht Klage auf Ersatz des aus dem wettbewerbswidrigen Verhalten entstandenen Schadens. Seiner Klage wurde vom Gericht erster Instanz teilweise stattgegeben, das Volvo und DAF Trucks zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 15 % des Kaufpreises der Lkw verurteilte. Das Gericht wies die von Volvo und DAF Trucks geltend gemachte Einrede, die Klage sei verjährt, zurück und kam zu dem Schluss, dass die in den spanischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie über die Entschädigung der Opfer wettbewerbswidriger Praktiken (Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union -ABl. 2014, L 349, S. 1) vorgesehene Fünfjahresfrist anwendbar sei. Zudem brachte das Gericht nach denselben Rechtsvorschriften die Vermutung zur Anwendung, dass die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen einen Schaden verursachen, und machte von seiner Befugnis Gebrauch, den Schaden zu schätzen, wie dies in zwei Bestimmungen der Richtlinie vorgesehen ist.
Die beiden Unternehmen legten bei der Audiencia Provincial de León (Provinzgericht León, Spanien) Berufung ein. Sie brachten zum einen vor, die Klage sei verjährt, da die Jahresfrist der ihrer Meinung nach anwendbaren Regelung über die außervertragliche Haftung des Zivilgesetzbuchs ab der Bekanntgabe der Pressemitteilung der Kommission am 19. Juli 2016 zu laufen begonnen habe. Zum anderen gebe es keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen dem im Beschluss der Kommission beschriebenen Verhalten und der Erhöhung des Preises der von RM erworbenen Lkw.
Die Audiencia Provincial de León hat beschlossen, dem Gerichtshof Fragen über den zeitlichen Anwendungsbereich einiger Bestimmungen der Richtlinie, hinsichtlich der anwendbaren Verjährungsfrist, zur Schadensschätzung sowie darüber zu stellen, ob die auf Schadensersatzklagen infolge wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in Anbetracht von Art. 101 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar sind.
In seinen heutigen Schlussanträgen hebt Generalanwalt Athanasios Rantos vorab hervor, dass es im vorliegenden Verfahren darum gehe, welche rechtliche Regelung auf die Verjährung der in Rede stehenden Klage sowie auf die Schätzung und Ermittlung des Umfangs des erlittenen Schadens anwendbar sei.
Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, dass der zeitliche Anwendungsbereich der Richtlinie tatsächlich begrenzt sei, da sie zwischen materiell-rechtlichen Vorschriften, die für vor ihrem Inkrafttreten „entstandene Sachverhalte“ nicht rückwirkend gälten, und Verfahrensvorschriften unterscheide, die im Rahmen von nach Inkrafttreten der Richtlinie (d. h. dem 26. Dezember 2014) erhobenen Klagen gälten.
Nach Ansicht des Generalanwalts ist die Beurteilung, ob die Bestimmungen der Richtlinie materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art sind, im Hinblick auf das Unionsrecht und nicht im Hinblick auf das nationale Recht vorzunehmen, um die kohärente und einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen.
Konkret gehöre die Regelung der Richtlinie über die Verjährungsfrist zum materiellen Recht, da diese Frist sowohl den Geschädigten – dieser müsse über genug Zeit verfügen, um geeignete Informationen im Hinblick auf eine etwaige Klage einzuholen – als auch den für den Schaden Verantwortlichen schützen solle, indem vermieden werde, dass der Geschädigte mit der Ausübung seines Rechts auf Schadensersatz unbegrenzt lange warten könne.
Daher sei die in der Richtlinie vorgesehene Fünfjahresfrist auf eine Klage wie die in Rede stehende nicht anwendbar, die, obwohl sie nach dem Inkrafttreten der Richtlinie und der nationalen Umsetzungsbestimmungen (26. Mai 2017) erhoben worden sei, einen Sachverhalt und Sanktionen vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen betreffe.
Darüber hinaus stellt der Generalanwalt fest, dass die Richtlinienbestimmung, wonach vermutet wird, dass Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen einen Schaden verursachen, materieller Art sei. Dadurch, dass die Beweislast dem Rechtsverletzer auferlegt und der Geschädigte von der Pflicht entbunden werde, zu beweisen, dass ein aufgrund eines Kartells erlittener Schaden vorliege, stehe diese Bestimmung nämlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuweisung der außervertraglichen zivilrechtlichen Haftung an denjenigen, der die betreffende Zuwiderhandlung begangen habe und berühre folglich unmittelbar dessen rechtliche Situation.
Was speziell nationale Normen betrifft, mit denen die Bestimmung umgesetzt wird, die eine Vermutung vorsieht, nach der durch Kartelle ein Schaden verursacht wird, vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass im Rahmen von Schadensersatzklagen, die nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Bestimmungen erhoben würden, die Richtlinie dem entgegenstehe, dass diese auf Zuwiderhandlungen angewandt würden, die vor deren Inkrafttreten begangen worden seien.
Dagegen sind nach Ansicht von Herrn Rantos die nationalen Umsetzungsvorschriften, die erlassen worden seien, um der Richtlinienbestimmung über die Befugnis des Gerichts zur Schätzung des Schadens nachzukommen, Verfahrensvorschriften und können im Rahmen einer nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Umsetzungsvorschrift erhobenen Schadensersatzklage auf Schäden infolge einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Anwendung finden, die vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift geendet habe.
Sodann prüft der Generalanwalt die Vereinbarkeit der im spanischen Zivilgesetzbuch vorgesehenen Regelung der außervertraglichen Haftung mit dem Effektivitätsgrundsatz, wonach jeder, der einen Schaden erlitten hat, in der Lage sein muss, den Ersatz des Schadens zu verlangen.
Hinsichtlich der Dauer der Verjährungsfrist räumt der Generalanwalt zwar ein, dass die Jahresfrist der spanischen Rechtsvorschriften erheblich kürzer sei als die Fünfjahresfrist der Richtlinie, betont aber, dass weitere Elemente der nationalen Verjährungsregelung zu berücksichtigen seien.
In Bezug auf den Starttag für die Berechnung der einjährigen Verjährungsfrist des Zivilgesetzbuchs vertritt der Generalanwalt den Standpunkt, dass diese Frist an dem Tag zu laufen beginne, an dem die Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werde, d. h. am 6. April 2017. Dies bedeute, dass die vom Erwerber der Lkw (RM) am 1. April 2018 angestrengte Schadensersatzklage nicht verjährt sei.
Der Generalanwalt schließt es aus, dass diese Frist möglicherweise am Tag der Veröffentlichung der Pressemitteilung der Kommission über ihren die Zuwiderhandlung feststellenden Beschluss zu laufen beginne. Die bloße Veröffentlichung dieses Dokuments ermögliche es dem Geschädigten nämlich nicht, von allen Informationen Kenntnis zu nehmen, die für die Ausübung seines Rechts auf eine Schadensersatzklage erforderlich seien. Die Opfer von wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen unterlägen auch keiner „Sorgfaltspflicht“, nach der sie die Veröffentlichung solcher Pressemitteilungen verfolgen müssten.
Schließlich führt der Generalanwalt aus, der Umstand, dass die in der Richtlinie vorgesehene Schadensvermutung in der vorliegenden Rechtssache keine Anwendung finde, hindere die nationalen Gerichte nicht daran, Vermutungen über die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Schadens anzuwenden, die vor den jeweiligen nationalen Umsetzungsbestimmungen existiert hätten, deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Unionsrechts unter Berücksichtigung insbesondere der allgemeinen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beurteilen sei.