Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 08.11.2022 zum Aktenzeichen 4 Sa 297/21, dass eine krankheitsbedingte Kündigung im Falle einer negativer Gesundheitsprognose rechtswidrig ist.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung.
Die im Zeitpunkt der Kündigung 35-jährige, geschiedene und zwei Kindern unterhaltsverpflichtete Klägerin ist seit dem 01.02.2013 zuletzt auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 15.01.2015 als Lager-Mitarbeiterin zu etwa 2.195,95 € brutto beschäftigt. Die Beklagte betreibt ein Zentrallager für die Belieferung von Einkaufs Märkten mit Lebensmitteln. Im Beschäftigungsbetrieb von ca. 830 Mitarbeiter beschäftigt.
In den Jahren 2016 – 2019 kam es zu häufigen Kurzerkrankungen der Klägerin. Unter dem 16.10.2019 führten die Parteien ein Gespräch. Mit Schreiben vom 11.12.2019, der Klägerin zugegangen am 13.12.2019, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.2020.
Die von der Beklagten aus krankheitsbedingten Gründen ausgesprochene Kündigung vom 11.12.2019, die die Klägerin innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG mit einer Kündigungsschutzklage angegriffen hat und welche daher auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen war, hat das Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet. Sie ist – nachdem das Kündigungsschutzgesetz aufgrund Betriebsgröße und Beschäftigungsdauer der Klägerin nach §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG Anwendung findet – nicht gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt.
Eine mit häufigen (Kurz-) Erkrankungen des Arbeitnehmers begründete Kündigung ist sozial nur gerechtfertigt, wenn im Kündigungszeitpunkt Tatsachen vorliegen, die die Prognose stützen, es werde auch künftig zu Erkrankungen im bisherigen – erheblichen – Umfang kommen – erste Stufe. Die prognostizierten Fehlzeiten müssen außerdem zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen – zweite Stufe. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung – dritte Stufe – ist schließlich zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber angesichts der Belange des Arbeitnehmers gleichwohl hingenommen werden müssen (vgl. BAG 16. Juli 2015 – 2 AZR 15/15 – Rn. 29 – juris; 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 16 – juris).
Auch nach von dem Berufungsgericht durchgeführter Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens ist bereits in der ersten Stufe die von der Beklagten angestellte negative Gesundheitsprognose, auch in Zukunft sei mit Erkrankungen der Klägerin im bisherigen Umfang zu rechnen, nicht berechtigt.
Treten während der letzten Jahre jährlich mehrere (Kurz-) Erkrankungen auf, spricht dies für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes, es sei denn, die Krankheiten sind ausgeheilt. Der Arbeitgeber darf sich deshalb auf der ersten Prüfungsstufe zunächst darauf beschränken, die Fehlzeiten der Vergangenheit darzustellen und zu behaupten, in Zukunft seien Krankheitszeiten in entsprechendem Umfang zu erwarten. Alsdann ist es Sache des Arbeitnehmers, gemäß § 138 Abs. 2 ZPO darzulegen, weshalb im Kündigungszeitpunkt mit einer baldigen Genesung zu rechnen war. Er genügt dieser prozessualen Mitwirkungspflicht schon dann, wenn er vorträgt, die behandelnden Ärzte hätten seine gesundheitliche Entwicklung positiv beurteilt, und wenn er diese von ihrer Schweigepflicht entbindet. Je nach Erheblichkeit des Vortrags ist es dann Sache des Arbeitgebers, den Beweis für die Berechtigung einer negativen Gesundheitsprognose zu führen (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 17, mwN, juris; BAG 10.11.2005 – 2 AZR 44/05 -, juris Rn. 24; LAG Köln 12.03.2021 – 10 Sa 804/20 -, juris Rn. 37 mwN.). Vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls ist für die Erstellung der Gesundheitsprognose ein Referenzzeitraum von drei Jahren maßgeblich; ist eine Arbeitnehmervertretung gebildet, ist auf die letzten drei Jahre vor Einleitung des Beteiligungsverfahrens abzustellen. (vgl. BAG 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 23; 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 32, zitiert nach juris). Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung ist der Zeitpunkt der Kündigungserklärung (BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Rn. 70 – juris; 26. Januar 2017 – 2 AZR 61/16 – Rn. 33, 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 3 – juris). Es ist aber – insbesondere, wenn dem Kündigungsgrund ein prognostisches Element innewohnt – nicht unzulässig, die spätere Entwicklung in den Blick zu nehmen, soweit sie die Prognose bestätigt (BAG 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 32 – juris; 13. Mai 2004 – 2 AZR 36/04 – Rn. 27- juris).
Dies zugrunde gelegt hat die Beklagte mit 58 krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstagen in 2017, 84 Arbeitsunfähigkeitstagen in 2018 und 52 Arbeitsunfähigkeitstagen bis zur Betriebsratsanhörung am 03.12.2018 ausreichende Fehlzeiten der Klägerin in der Vergangenheit dargelegt hat, denen eine Indizwirkung hinsichtlich künftiger Fehlzeiten zukommt.
Die Klägerin hat – wie das Arbeitsgericht zu Recht erkannt hat – mit ihrer substantiierten Einlassung zur positiven Gesundheitsprognose, insbesondere ihrem Berufen auf die entsprechende Bewertung der beiden sie hauptsächlich behandelnden Ärzte und die Entbindung aller Behandler von der Schweigepflicht die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten erschüttert.
Trägt der Arbeitnehmer selbst konkrete Umstände für seine Beschwerden und deren Ausheilung oder Abklingen vor, so müssen diese geeignet sein, die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten zu erschüttern; er muss jedoch nicht den Gegenbeweis führen, dass nicht mit weiteren häufigen Erkrankungen zu rechnen sei (BAG 10. November 2005 – 2 AZR 44/05 – Rn. 31, zitiert nach juris).
Die Beklagte hat den Beweis für die Berechtigung einer negativen Gesundheitsprognose nicht erbracht. Nach durchgeführter Beweisaufnahme unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen steht nicht zur Überzeugung der Berufungskammer gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO fest, dass die nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG zur sozialen Rechtfertigung erforderliche negative Gesundheitsprognose bei der Klägerin zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs vorgelegen hat. Es steht nicht fest, dass am 11. Dezember 2019 künftig mit häufigen Kurzerkrankungen der Klägerin von jährlich insgesamt mehr als sechs Wochen zu rechnen war.
Der Sachverständigte Dr. med. E hat zur Erstellung seines ausführlichen Gutachtens vom 09. Dezember 2021 eine persönliche Anamnese, bestehend aus Familien-, Arbeits-, spezieller sowie vegetativer Anamnese, erstellt (S. 3 – 6 SVG). Er hat im Rahmen der Familienanamnese einschlägige Vorerkrankungen, im Rahmen der Arbeitsanamnese den beruflichen Werdegang der Klägerin sowie ihre Tätigkeiten bei der Beklagten und im Rahmen der speziellen Anamnese ihre Stellungnahme zu ihren Virusinfekten, muskuloskelettalen sowie psychischen Erkrankungen erfragt. Zudem hat er die Klägerin am 18.05.2022 persönlich untersucht. Als Ergebnis der körperlichen Untersuchung hat er dargelegt, dass eine Depression aufgrund des Verhaltens der Klägerin nicht erkennbar sei. Die orientierende Untersuchung insbesondere der Wirbelsäule zeige einen Normalbefund mit normaler Form und Beweglichkeit. Am rechten Ellenbogen finde sich ein leichtgradiger Druckschmerz im Bereich des radialen Epicondylus; die grobe Kraft sei allseits erhalten. Im Bereich der Thoraxorgane sei der Untersuchungsbefunde unauffällig.
Dem Gutachter lag das in erster Instanz eingeholte fachärztliche Gutachten des Dr. K vom 25. November 2020 sowie dessen ergänzende Ausführungen vom 20. März 2021 sowie die gesamten Gerichtsakten vor. Ihm war bekannt, dass bei der Klägerin zwischen dem 03.03.2015 und am 13.12.2019 insgesamt 222 Fehltage gegeben waren, die sich im Wesentlichen auf drei Krankheitsgruppen, nämlich muskuloskelettale Erkrankungen, Infekte und eine psychische Erkrankung verteilten.
Der Gutachter kam in seinem Sachverständigengutachten widerspruchsfrei und nachvollziehbar zu dem Schluss, dass im Dezember 2019 ärztlicherseits eine Prognose nicht eindeutig abgegeben werden konnte, dass aber andererseits keine chronischen Erkrankungen vorlagen, die stark auf eine schlechte Prognose schließen bzw. häufige Fehltage erwarten ließen. Eine Einschränkung sei dahingehend zu berücksichtigen, dass insbesondere die damalige offensichtlich reaktive Depression der Klägerin als auch die muskuloskelettalen Beschwerden, insbesondere die rezidivierende Lumbago der Klägerin kaum eine Prognose hinsichtlich Fehltagen zulassen. Retrospektiv betrachtet könnten sämtliche der im Zeitraum von 2015 – 2019 bestehenden Erkrankungen für die jetzige Eignung der Klägerin auch für schwere körperliche Tätigkeiten nicht mehr als beurteilungsrelevant angesehen werden.
Aufgrund dieser plausiblen Darstellungen und Erläuterungen des Gutachters geht die Berufungskammer davon aus, dass nicht feststeht, dass zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs mit künftigen Fehlzeiten der Klägerin wie in der Vergangenheit zu rechnen war.
Der Gutachter erläutert plausibel, auf die Möglichkeit von Zusatzgutachten auf neurologisch-psychiatrischen und orthopädischen Fachgebiet keinen Gebrauch gemacht zu haben, da er es für sehr unwahrscheinlich halte, dass durch eine aktuelle Untersuchung der Klägerin chronische Krankheiten detektiert werden könnten, da sich aufgrund der Anamnese und der klinischen Untersuchung keine Hinweise auf derartige chronischen Erkrankungen ergeben hätten. Er legt dar, dass sich diese Beurteilung auch mit dem Attest der Hausärztin Frau Y , die von einem aus heilen dieser Krankheiten ausgehe, decke. Die Klägerin könne insbesondere für alle drei Krankheitsgruppen Gründe benennen, die möglicherweise dazu geführt haben, dass sich die Krankheitszeiten in den zu beurteilenden Jahren verstärkt manifestierten, nämlich das Einschleppen von Viren durch die Kinder aus der Schule, die multiplen psychischen Belastungen durch Privatinsolvenz, Probleme mit dem Sohn und arbeitsbedingte Probleme sowie die muskuloskelettalen Beschwerden, die erfolgreich therapiert worden seien.
Die Einwendung der Beklagten gegen das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. E , der Sachverständige verkenne, dass es für die Beantwortung der Beweisfrage nicht auf die weitere Entwicklung des Krankheitsverlaufs nach dem Ausspruch der Kündigung ankomme, sondern dass darauf abzustellen sei, ob die Beklagte auf der Grundlage ihres damaligen Kenntnisstandes im Dezember 2019 zurecht davon ausgehen konnte, dass weiterhin eine negative gesundheitliche Zukunftsprognose bei der Klägerin bestehen würde, ist nicht nachvollziehbar. Wie zuvor ausgeführt, beantwortet der Sachverständige im Rahmen seiner zusammenfassenden Beurteilung die von der Beklagten zu beweisende Behauptung, eindeutig dahingehend, „dass im Dezember 2019 ärztlicherseits eine Prognose nicht eindeutig abgegeben werden konnte“ (Hervorhebung durch das Gericht). Zudem ist es aber – insbesondere, wenn dem Kündigungsgrund ein prognostisches Element innewohnt – nicht unzulässig, die spätere Entwicklung in den Blick zu nehmen, soweit sie – wie hier – die Prognose bestätigt (vgl BAG, Urteil vom 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 –, BAGE 147, 162-171, Rn. 32). Auch ist hier die fallende Tendenz der krankheitsbedingten Fehlzeiten von 2018 auf 2019 zu berücksichtigen, die zudem dadurch bestätigt wird, dass die Klägerin nach Zugang der Kündigung noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist durchgehend arbeitsfähig war.
Die Ausführungen des Herrn Dr. E in dem Schreiben vom 05.01.0222, auf die die Beklagte in ihrem Vortrag nach Einholung des Gutachtens teilweise abstellt, sind nicht heranzuziehen, da dieses nicht Teil des erstellten Gutachtens ist, sondern nur der Klärung der Verfahrensweise im Hinblick auf die Frage der Erforderlichkeit einer persönlichen Untersuchung der Klägerin diente.
Durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten wurde das Ergebnis des erstinstanzlichen Urteils bestätigt. Auf Fehler in der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht kommt es somit nicht (mehr) an. Insbesondere eine fehlerhafte Anwendung der Beweiswürdigungsgründe und des Beweismaßes sind zudem nicht gegeben.
Nachdem es bereits an einer negativen Zukunftsprognose der Klägerin iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG fehlt, kommt es nicht darauf an, ob die weiteren Voraussetzungen für eine soziale Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung vorlagen. Nicht mehr entscheidungserheblich ist auch, ob die Beklagte ein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 167 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat. Ebenso kann dahinstehen, ob die Kündigung wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam war. Die Kündigung der Beklagten vom 11. Dezember 2019 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht wirksam beendet.
Da das Arbeitsverhältnis nicht durch die streitgegenständliche Kündigung beendet worden ist, hat die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens einen Anspruch, zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigt zu werden gemäß §§ 611, 242 BGB, Art. 1 und 2 GG (vgl. BAG GS 27. Februar 1985 – GS 1/84).