243 Krankheitstage in nur drei Jahren: Amazon kündigt einem Versandmitarbeiter – und der wehrt sich.
Vor dem Arbeitsgericht Lüneburg wird aktuell ein aufsehenerregender Fall verhandelt: Ein 36-jähriger Versandmitarbeiter des Logistikzentrums Winsen (Luhe) klagt gegen seine krankheitsbedingte Kündigung durch den Versandriesen Amazon. Die Dimensionen des Falles sind beachtlich: In den Jahren 2022 bis 2024 soll der Mitarbeiter insgesamt 243 Tage krankheitsbedingt gefehlt haben – dazu kommen weitere 30 Fehltage im laufenden Jahr 2025. Amazon sah sich daher Anfang Februar veranlasst, das Arbeitsverhältnis zum 30. April 2025 ordentlich zu kündigen.
Die arbeitsrechtlichen Grundlagen der krankheitsbedingten Kündigung
Eine krankheitsbedingte Kündigung stellt eine Unterform der personenbedingten Kündigung dar. Sie setzt im Wesentlichen drei Prüfungsschritte voraus:
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Negative Gesundheitsprognose: Es muss aufgrund bisheriger Erkrankungen davon ausgegangen werden können, dass der Arbeitnehmer auch zukünftig überdurchschnittlich häufig oder langanhaltend krankheitsbedingt fehlen wird.
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Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen: Die Arbeitsunfähigkeit muss zu erheblichen Betriebsablaufstörungen oder zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen, insbesondere durch anhaltende Entgeltfortzahlungskosten.
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Interessenabwägung: Im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung muss festgestellt werden, dass das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers überwiegt.
Besonderes Gewicht kommt dem sogenannten betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) zu. Arbeitgeber sind verpflichtet, bei länger andauernden oder wiederkehrenden Erkrankungen mit dem Arbeitnehmer nach § 167 Abs. 2 SGB IX ein BEM durchzuführen. Das Unterlassen eines BEM kann eine Kündigung zwar nicht automatisch unwirksam machen, erhöht jedoch die Anforderungen an die Darlegung der Kündigungsgründe.
Besonderheiten im Fall Amazon
Besonders bemerkenswert ist, dass Amazon im vorliegenden Fall offenbar in den meisten Fällen selbst die Lohnfortzahlung leisten musste. Üblicherweise endet die Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nach sechs Wochen pro Erkrankungsfall; danach springt die Krankenkasse mit Krankengeld ein. Die Tatsache, dass der Versandmitarbeiter fast durchgängig lohnfortzahlungsberechtigt war, deutet auf eine Vielzahl unterschiedlicher, jeweils neuer Erkrankungen hin.
Das Arbeitsgericht folgerte daraus zutreffend, dass offenbar nicht eine monokausale Dauererkrankung vorliegt, sondern zahlreiche unterschiedliche Leiden bestanden haben müssen. Dies könnte für Amazon die krankheitsbedingte Kündigung erleichtern, da eine breite Krankheitslage oft eine negative Gesundheitsprognose stützt.
Der Arbeitnehmer wiederum machte geltend, dass eine anhaltende Fußverletzung – verursacht durch weite tägliche Laufstrecken im Logistikzentrum – Hauptursache seiner Fehlzeiten sei. Seine Anwältin argumentierte, dass die Verletzung mangels ausreichender Schonung nie ausgeheilt sei.
Amazon wies diese Darstellung jedoch zurück: In dem modernen Logistikzentrum würden Roboter die Hauptarbeit leisten und schwere Lasten transportieren, sodass die Mitarbeiter kaum noch weite Strecken zurücklegen müssten.
Prozessverlauf: Risiken auf beiden Seiten
Im Gütetermin zeigte sich, dass der Ausgang des Rechtsstreits offen ist. Zwar sprechen die hohe Anzahl an Krankheitstagen und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Belastungen klar für Amazon. Andererseits wird es auf die genaue Diagnoseliste und die Bewertung der Gesundheitsprognose ankommen. Sollte sich herausstellen, dass keine dauerhafte Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorliegt oder dass Amazon kein BEM durchgeführt hat, könnte die Kündigung unwirksam sein.
Das Arbeitsgericht kündigte an, gegebenenfalls die Diagnoseliste der Krankenkasse beizuziehen, um die Krankheitsverläufe nachvollziehen zu können. Diese Einsichtnahme ist rechtlich zulässig, wenn die Zustimmung des Arbeitnehmers vorliegt oder im Prozess die Notwendigkeit zur Sachverhaltsaufklärung besteht.
Beide Seiten zeigten sich zunächst kompromissbereit: Amazon bot dem Mitarbeiter eine Abfindung von 10.000 Euro an. Der Kläger forderte hingegen knapp 28.000 Euro – nahezu das Dreifache des Angebots. Der Richter merkte an, dass Abfindungen üblicherweise bei etwa einem halben Bruttomonatsgehalt pro Beschäftigungsjahr liegen – deutlich unter der Forderung des Arbeitnehmers.
Da keine Einigung erzielt werden konnte, wird der Fall nun in einer streitigen Kammerverhandlung im August 2025 fortgesetzt.
Fazit: Hohe Krankenstände können Kündigungen rechtfertigen – aber nicht automatisch
Der Fall zeigt anschaulich, dass hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten grundsätzlich ein Kündigungsgrund sein können. Allerdings genügt allein eine hohe Zahl von Fehltagen nicht. Entscheidend sind eine fundierte negative Gesundheitsprognose, betriebliche Beeinträchtigungen und eine ordnungsgemäße Interessenabwägung. Zudem müssen Arbeitgeber nachweisen, dass sie – insbesondere über ein BEM – ernsthaft versucht haben, das Arbeitsverhältnis zu erhalten.
Arbeitnehmer wiederum sollten darauf achten, ihre gesundheitliche Situation gut zu dokumentieren und gegebenenfalls darzulegen, dass eine Heilung oder Besserung möglich ist. Gerade bei chronischen Leiden, die auf betriebliche Belastungen zurückzuführen sind, können besondere Schutzrechte greifen.
Wie das Arbeitsgericht Lüneburg entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur: Für beide Seiten steht in diesem Rechtsstreit viel auf dem Spiel.