Das Sozialgericht Hildesheim hat mit Beschluss vom 29.07.2021 zum Aktenzeichen S 56 KR 4022/21 ER in einem von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht Dipl.Jur. Jens Usebach LL.M. der Kölner Rechtsanwaltskanzlei JURA.CC vertretenen Fall entschieden, dass eine Krankenkasse vorläufig eine Lipid-Apherese leisten muss.
Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Bewilligung und Kostenübernahme für eine regelmäßige Apheresebehandlung zur Verminderung eines Herzinfarktrisikos.
Der im Jahre 1957 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet unter anderem an einer progredienten Arteriosklerose und einer Hyperlipoproteinämie mit Erhöhung des Lp(a) von 232 mg/dl. Sein LDLCholesterin liegt im „Normbereich“.
Das Gericht teilt zwar grundsätzlich den Einwand der Antragsgegnerin, dass ihr ohne die Einräumung einer Einsicht in die der Apheresekommission vorgelegten medizinischen Unterlagen keine bewilligende Entscheidung treffen könne. Das Recht zur Stellungnahme in § 6 Abs. 3 der Aphereserichtlinie setzt denknotwendig voraus, dass sich die Krankenkasse ein eigenständiges Bild von der medizinischen Situation machen kann. Und dies wiederum setzt eine umfassende Information voraus. Insofern geht die Argumentation fehl, der MDK sei ja durch die Entsendung von 2 Vertretern in die Kommission beteiligt. Denn die Aphereserichtlinie gestattet den Mitgliedern der Kommission keine unmittelbare Unterrichtung Dritter über die medizinischen Erkenntnisse oder die Abstimmungslage. Zudem geht weder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen noch aus der Aphereserichtlinie hervor, dass das Votum der Kommission im Bewilligungsverfahren für die jeweilige Krankenkasse bindend wäre. Ein positives Votum ist nämlich lediglich vom Antragsteller zu erfüllende Tatbestandvoraussetzung für die begehrte Bewilligung. Dies bedarf jedoch im Eilverfahren keiner weiteren rechtlichen Vertiefung.
Besteht die Gefahr, dass sich die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich wie hier glaubhaft gemacht jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen sowie medizinische Begutachtungen durch den MDK. In diesem Fall hat sich die Entscheidung vielmehr an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren. Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat. Dabei ist insbesondere die in Art 2 Abs. 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen.
Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren bedeutet dies, dass die Sozialgerichte die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen (vgl. LSG NiedersachsenBremen, Beschluss vom 06.05.2019, L 16 KR 121/19 B ER. Dieser Beschluss, der beiden Beteiligten gut bekannt ist, erging ebenfalls zu einer Aphereseproblematik).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze steht der Antragsteller bei einer Folgenabwägung ein Anspruch auf vorläufige Versorgung mit der begehrten Apherese (längstens) bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes der Apheresekommission der KVN) zu.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, die insbesondere die ärztliche Behandlung umfasst (Satz 2 Nr. 1). Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit unter genau festgelegten Prämissen. In § 3 der Anlage I „Anerkannte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ „1. Ambulante Durchführung der Apheresen als extrakorporales Hämotherapieverfahren“ (Apherese-Richtlinie) sind die möglichen Indikationen einer LDL-Apherese bei Hypercholesterinämie aufgeführt. Nach Abs. 1 können LDL-Apheresen bei Hypercholesterinämie nur durchgeführt werden bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung. Alternativ ist eine Behandlung bei schwerer Hypercholesterinämie möglich, wenn mit einer über 12 Monate dokumentierten maximalen diätischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend gesenkt werden kann. Im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung soll das GesamtRisikoprofil des Patienten stehen. Nach § 3 Abs. 2 können LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a) Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankung).
Ob diese Voraussetzungen in der Person des Antragstellers vollumfänglich erfüllt sind, lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären, da eine Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens gegebenenfalls erforderlich wäre. Jedenfalls hat der Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 der Apherese-Richtlinie glaubhaft gemacht.
Bei einer solchen Sachlage genügt es, wenn – wie oben bereits dargelegt eine Gesundheitsstörung verbunden mit lebensbedrohlichen oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der körperlichen Funktion vorliegt, selbst wenn noch nicht das Stadium einer akuten Lebensgefahr oder akuten schwerwiegenden Gesundheitsschädigung erreicht ist.
Dafür, dass bei dem Antragsteller eine der Voraussetzungen des § 3 der Apherese-Richtlinie erfüllt sind und eine schwere Gesundheitsgefährdung bei ihr im Falle der Ablehnung einer Lipid-Apherese-Behandlung eintreten könnte, spricht durchaus die Entscheidung der fachkundig besetzten Apherese-Kommission bei der KVN. Dass diese Entscheidung kein die Antragsgegnerin bindendes Votum darstellt, ihr also verbieten würde, mittels Einschaltung des MDK eine abweichende medizinische Position einzunehmen, steht dem nicht entgegen, dass das Gericht bei seiner Abwägungsentscheidung sich auf das Votum der Kommission beruft.
Zusammengefasst ist zur Folgenabwägung festzuhalten: Würde das Gericht die von dem Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung nicht erlassen, bestände die Gefahr, dass dieser infolge der dann nicht möglichen Apherese-Therapie, die je Therapieeinheit ca. 1.000 € kostet, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden und noch vor Abschluss eines Hauptsacheverfahrens versterben könnte. Ein sozialgerichtliches Hauptsacheverfahren hat im Durchschnitt eine Verfahrensdauer zwischen 2 bis 3 Jahren, je nach Intensität der gerichtlichen Ermittlungen und der fristgerechten Zuarbeit durch die Beteiligten und durch zu beauftragende Sachverständige. Deshalb war die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.