Kostenübernahme für Behandlungen im EU-Ausland

23. September 2020 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 23.09.2020 zum Aktenzeichen C-777/18 entschieden, dass die Kostenübernahme für einen im EU-Ausland dringend vorgenommenen Eingriff bei fehlender Vorabgenehmigung durch die Krankenkasse nicht generell ausgeschlossen werden darf.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 113/2020 vom 23.09.2020 ergibt sich:

Im Jahr 1987 erlitt ein ungarischer Staatsangehöriger eine Netzhautablösung im linken Auge und verlor die Sehkraft auf diesem Auge. Im Jahr 2015 wurde am rechten Auge ein Glaukom diagnostiziert. Seine Behandlung in verschiedenen ungarischen Gesundheitseinrichtungen blieb ohne Wirkung; sein Gesichtsfeld verringerte sich immer mehr und der Augeninnendruck nahm stetig zu. Am 29.09.2016 kontaktierte er einen in Recklinghausen (Deutschland) praktizierenden Arzt und erhielt bei ihm einen Untersuchungstermin für den 17.10.2016. Der Arzt wies ihn darauf hin, dass er seinen Aufenthalt bis zum 18.10.2016 verlängern müsse, da an diesem Tag ggf. ein augenärztlicher Eingriff erfolgen werde.
In der Zwischenzeit wurde bei einer ärztlichen Untersuchung in Ungarn ein Augeninnendruck festgestellt, der deutlich über dem als normal geltenden Wert lag. Die am 17.10.2016 in Deutschland vorgenommene Untersuchung veranlasste den dortigen Arzt zu der Entscheidung, dass der augenärztliche Eingriff dringend vorzunehmen sei, um die Sehkraft zu erhalten. Der Patient wurde am 18.10.2016 erfolgreich operiert.
Der Antrag auf Erstattung der mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland verbundenen Kosten wurde von den ungarischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei dieser Versorgung um eine geplante Behandlung handele, für die er keine Vorabgenehmigung erhalten habe, wie sie von den Unionsverordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – ABl. 2004, L 166, 1 und Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – ABl. 2009, L 284, 1) vorgeschrieben werde.
Das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathelyi, Ungarn), bei dem eine Klage gegen die Entscheidung anhängig ist, die mit der genannten Gesundheitsversorgung verbundenen Kosten nicht zu erstatten, hat den EuGH gefragt, ob die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die Richtlinie 2011/24/EU über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung (ABl. 2011, L 88, 45) oder der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, die dahin ausgelegt wird, dass sie die Übernahme der Kosten einer ohne Vorabgenehmigung in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung in allen Fällen ausschließt, ohne dabei den Gesundheitszustand des Patienten und die Dringlichkeit der fraglichen Gesundheitsversorgung zu berücksichtigen.

Der EuGH hat entschieden, dass die nationale Regelung eine unverhältnismäßige Beschränkung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt und gegen die Richtlinie verstößt.

Nach Auffassung des EuGH ist als Erstes im Wege der Auslegung der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit festzustellen, dass eine Gesundheitsversorgung, die der Versicherte allein nach seinem eigenen Willen in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes in Anspruch genommen hat, eine geplante Behandlung im Sinne der Verordnungen darstellt, deren Kostenübernahme davon abhängig ist, dass der zuständige Träger des Wohnmitgliedstaats eine Vorabgenehmigung erteilt hat.

Entsprechend seines Urteils vom 05.10.2010 (C-173/09 „Elchinov“) könne der Versicherte selbst dann die Erstattung der mit dieser Behandlung verbundenen Kosten unmittelbar vom zuständigen Träger erlangen, wenn vor Beginn der in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Behandlung keine ordnungsgemäß erteilte Vorabgenehmigung vorgelegen habe – und zwar in Höhe dessen, was dieser Träger normalerweise übernommen hätte, wenn der Versicherte über eine solche Genehmigung verfügt hätte. Diese Möglichkeit bestehe insbesondere, wenn der Versicherte wegen seines Gesundheitszustandes oder der Dringlichkeit, sich dieser Behandlung zu unterziehen, außerstande war, eine solche Genehmigung zu beantragen bzw. die Entscheidung des zuständigen Trägers über seinen Genehmigungsantrag abzuwarten (im Folgenden: besondere Umstände).

Im Hinblick darauf obliege es dem zuständigen Träger – unter der Kontrolle der nationalen Gerichte –, zum einen zu prüfen, ob der von ihm zu untersuchende Fall besondere Umstände aufweise und zum anderen, ob die Kriterien für eine Kostenübernahme durch den zuständigen Träger gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 (in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es: „Die Genehmigung wird erteilt, wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen ist, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen sind, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann.“) im Übrigen erfüllt seien.

Hinsichtlich der erstgenannten Voraussetzung (Eintritt besonderer Umstände) sei festzustellen, dass die am 15.10.2016 in Ungarn erfolgte Untersuchung, deren Ergebnis die Dringlichkeit des augenärztlichen Eingriffs bestätigt habe, dem sich der Patient dann tatsächlich am 18.10.2016 in Deutschland unterzogen habe, ein Indiz dafür darstellen könne, dass er die Entscheidung des zuständigen Trägers über einen Genehmigungsantrag nicht hätte abwarten können. Allerdings sei es Sache des ungarischen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob die beiden oben genannten Voraussetzungen erfüllt seien.

Für den Fall, dass das ungarische Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der Patient für die Kosten der Behandlung in Deutschland keinen Erstattungsanspruch auf der Grundlage der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit habe, sei als Zweites zu prüfen, ob der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs und die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, mit der dieser Grundsatz konkretisiert werde, einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, die bei fehlender Vorabgenehmigung die Kostenerstattung für die Gesundheitsversorgung des Versicherten in einem anderen Mitgliedstaat in allen Fällen ausschließe, selbst wenn die echte Gefahr bestehe, dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten irreversibel verschlechtert. Die von einem Versicherten aus einem Mitgliedstaat hiernach beanspruchbare Erstattung der Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sei auf den Betrag der Kosten begrenzt, die dieser Mitgliedstaat übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre, wobei die Erstattung die Höhe der tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten nicht überschreiten dürfe.

Ein Vorabgenehmigungssystem, wie es durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung geschaffen wurde, stelle insoweit eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.stellt.

Soweit die ungarische Regierung argumentiere, dass eine solche Beschränkung durch das Ziel gerechtfertigt sei, eine optimale Planung und Verwaltung der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und die mit dieser Versorgung zusammenhängenden Kosten zu begrenzen, sei darauf hinzuweisen, dass ein solches Bedürfnis nur für Krankenhausbehandlungen oder aufwändige Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern geltend gemacht werden könne, nicht aber für ärztliche Beratungen. Das ungarische Gericht werde daher zu prüfen haben, ob der fragliche augenärztliche Eingriff unter eine dieser beiden Behandlungskategorien falle.

Für den Fall, dass das ungarische Gericht zu der Auffassung gelangen sollte, dass es sich bei dem fraglichen augenärztlichen Eingriff um eine Krankenhausbehandlung oder eine aufwändige Behandlung außerhalb eines Krankenhauses handele, sei festzustellen, dass eine nationale Regelung, die bei fehlender Vorabgenehmigung – selbst wenn die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im Übrigen erfüllt wären – auch unter den oben genannten besonderen Umständen ausschließt, dass der zuständige Träger die Kosten einer solchen Behandlung erstatte, eine unverhältnismäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs bewirke und gegen die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung verstoße.