Der Europäische Gerichtshof hat am 02.09.2021 zum Aktenzeichen C-928/19 P entschieden, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, einem Antrag der Sozialpartner auf Durchführung einer von ihnen geschlossenen Vereinbarung auf Unionsebene stattzugeben.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 151/2021 vom 02.09.2021 ergibt sich:
Der Gerichtshof bestätigt das Urteil des Gerichts und weist auf das Ermessen hin, über das die Kommission bei der Entscheidung darüber verfügt, ob es zweckmäßig ist, dem Rat gemäß Art. 155 Abs. 2 AEUV einen Vorschlag für einen Beschluss zur Durchführung der Vereinbarung vorzulegen.
Im April 2015 führte die Kommission eine Anhörung zur möglichen Erweiterung des Anwendungsbereichs mehrerer Richtlinien über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer1 auf die Beamten und Angestellten der zentralstaatlichen Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten durch. Einige Monate später schlossen zwei Sozialpartner, die Gewerkschaftsdelegation für nationale und europäische Verwaltungen (TUNED) und die Arbeitgeber in der öffentlichen europäischen Verwaltung (EUPAE), im Rahmen dieser Anhörung eine Vereinbarung, mit der ein allgemeiner Rahmen für die Unterrichtung und Anhörung von Beamten und Angestellten dieser nationalen Verwaltungsbehörden geschaffen wurde. Die Unterzeichner der Vereinbarung ersuchten sodann die Kommission, dem Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 155 Abs. 2 AEUV2 einen Vorschlag für einen Beschluss zur Durchführung ihrer Vereinbarung auf Unionsebene zu unterbreiten. Am 5. März 2018 entschied die Kommission, ihren Antrag abzulehnen (im Folgenden: streitige Entscheidung).
Im Mai 2018 focht die European Federation of Public Service Unions (EPSU) als Dachverband der die Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen vertretenden europäischen Gewerkschaftsorganisationen und Mitgründerin der TUNED diese Entscheidung vor dem Gericht der Europäischen Union an und beantragte deren Nichtigerklärung. Das Gericht3 wies die Klage mit der Begründung ab, dass Art. 155 Abs. 2 AEUV die Unionsorgane nicht verpflichte, einem gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien einer Vereinbarung, sie auf Unionsebene durchzuführen, stattzugeben. Im Anschluss an die Feststellung, dass die streitige Entscheidung nur beschränkt nachprüfbar sei, kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass sie der Begründungspflicht gemäß Art. 296 AEUV genüge und dass die beanstandeten Gründe der Entscheidung stichhaltig seien.
Auf ein von der EPSU eingelegtes Rechtsmittel hin bestätigt die Große Kammer des Gerichtshofs unter Hinweis auf das der Kommission in diesem Bereich zustehende Ermessen und die beschränkte gerichtliche Kontrolle solcher Entscheidungen das Urteil des Gerichts.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst führt der Gerichtshof zur Auslegung des Wortlauts von Art. 155 Abs. 2 AEUV aus, dass diese Bestimmung keinen Anhaltspunkt für eine etwaige Verpflichtung der Kommission enthält, dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss zu unterbreiten. Die in mehreren Sprachfassungen verwendeten zwingenden Formulierungen sollen nur die Ausschließlichkeit der beiden dort vorgesehenen alternativen Verfahren zum Ausdruck bringen, wobei eines von ihnen ein spezifisches Verfahren ist, das zum Erlass eines Rechtsakts der Union führt.
Sodann nimmt der Gerichtshof eine systematische und teleologische Auslegung dieser Bestimmung vor und analysiert sie im Rahmen der Befugnisse, die der Kommission durch die Verträge und insbesondere durch Art. 17 EUV übertragen wurden, nach dessen Abs. 1 sie die allgemeinen Interessen der Union zu fördern hat und dessen Abs. 2 ihr ein allgemeines Initiativrecht für den Erlass von Gesetzgebungsakten einräumt. Der Gerichtshof schließt daraus, dass Art. 155 Abs. 2 AEUV der Kommission eine spezifische Befugnis verleiht, die zu der ihr durch Art. 17 Abs. 1 EUV zugewiesenen Rolle gehört und darin besteht, zu beurteilen, ob es zweckmäßig ist, dem Rat auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen Sozialpartnern einen Vorschlag zu ihrer Durchführung auf Unionsebene zu unterbreiten. Eine andere Auslegung hätte zur Folge, dass den Interessen allein der Sozialpartner, die Unterzeichner einer Vereinbarung sind, Vorrang vor der Aufgabe der Kommission eingeräumt würde, die allgemeinen Interessen der Union zu fördern. Die in Art. 152 Abs. 1 AEUV verankerte Autonomie der Sozialpartner, die im Rahmen des nach Art. 151 Abs. 1 AEUV zu den Zielen der Union gehörenden sozialen Dialogs zu berücksichtigen ist, stellt diese Schlussfolgerung nicht in Frage. Diese die Phase der Aushandlung einer etwaigen Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern kennzeichnende Autonomie bedeutet nicht, dass die Kommission auf ihren Antrag dem Rat automatisch einen Vorschlag für einen Beschluss zur Durchführung einer solchen Vereinbarung auf Unionsebene unterbreiten muss, denn dies liefe darauf hinaus, den Sozialpartnern ein eigenes Initiativrecht zuzuerkennen, das sie nicht haben.
Der Gerichtshof führt weiter aus, dass sich die von der EPSU aufgeworfene Frage der Einstufung der gemäß Art. 155 Abs. 2 AEUV erlassenen Rechtsakte als Gesetzgebungsakte von der Frage unterscheidet, welche Befugnis der Kommission bei der Entscheidung darüber zusteht, ob es zweckmäßig ist, dem Rat gemäß dieser Bestimmung einen Vorschlag zu unterbreiten, und dass der Umfang dieser Befugnis der Kommission gleich ist, unabhängig davon, ob der vorgeschlagene Rechtsakt ein Gesetzgebungsakt ist oder nicht.
Überdies weist der Gerichtshof in Bezug auf die Problematik des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle der streitigen Entscheidung darauf hin, dass die Kommission bei der Entscheidung darüber, ob es angebracht ist, dem Rat einen Vorschlag nach Art. 155 Abs. 2 AEUV zu unterbreiten, über ein Ermessen verfügt. Angesichts der komplexen Beurteilungen, die sie insoweit vorzunehmen hat, sind derartige Entscheidungen nur beschränkt gerichtlich überprüfbar. Eine solche Beschränkung ist insbesondere dann geboten, wenn die Unionsorgane wie im vorliegenden Fall potenziell widerstreitende Interessen zu berücksichtigen und mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erwägungen verbundene Entscheidungen zu treffen haben.
Schließlich führt der Gerichtshof zum Vorbringen der Rechtsmittelführerin, ihr berechtigtes Vertrauen sei verletzt worden, weil die Kommission von ihren früheren im Bereich der Sozialpolitik veröffentlichten Mitteilungen abgewichen sei, aus, dass sich ein Organ, das Verhaltensregeln erlässt und durch ihre Veröffentlichung ankündigt, dass es sie künftig auf die von ihnen erfassten Fälle anwenden werde, zwar eine Selbstbeschränkung bei der Ausübung seines Ermessens auferlegt. Ohne eine ausdrückliche und eindeutige Selbstverpflichtung der Kommission kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich im vorliegenden Fall bei der Ausübung der ihr durch eine primärrechtliche Bestimmung übertragenen Befugnis eine Selbstbeschränkung in Form der Verpflichtung, vor der Unterbreitung ihres Vorschlags ausschließlich ganz bestimmte Erwägungen zu prüfen, auferlegt hätte, die diese Ermessensbefugnis bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zu einer gebundenen Befugnis machen würde.
Der Gerichtshof bestätigt deshalb, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen hat, und weist das Rechtsmittel der EPSU in vollem Umfang zurück.