Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona ist im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof mit dem Aktenzeichen C-156/21 und C-157/21 der Ansicht, dass die Klagen Ungarns und Polens gegen die Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union bei Verstößen gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit abzuweisen sind. Diese Regelung wurde auf einer geeigneten Rechtsgrundlage erlassen, ist mit Art. 7 EUV vereinbar und steht im Einklang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 217/2021 vom 02.12.2021 ergibt sich:
Am 16. Dezember 2020 erließ der Unionsgesetzgeber eine Verordnung1, mit der eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union bei Verstößen gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten eingeführt wird. Zur Erreichung dieses Ziels kann der Rat nach der Verordnung auf Antrag der Europäischen Kommission u. a. Maßnahmen wie die Aussetzung von Zahlungen zulasten des Haushalts der Union oder der Genehmigung eines oder mehrerer aus Haushaltsmitteln der Union finanzierter Programme treffen. Ungarn und Polen haben vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klagen auf Nichtigerklärung der Verordnung erhoben. Dabei stützen sie sich u. a. darauf, dass die Verordnung keine oder eine unzureichende Rechtsgrundlage habe, dass sie mit Art. 7 EUV2 unvereinbar sei und dass sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße.
In seinen Schlussanträgen vom 02.12.2021 weist Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona erstens darauf hin, dass mit der Verordnung ein spezieller Mechanismus für die Gewährleistung der korrekten Ausführung des Haushaltsplans der Union eingeführt werden solle, wenn ein Mitgliedstaat Verstöße gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit begehe, die die ordnungsgemäße Verwaltung von Mitteln der Union oder ihre finanziellen Interessen gefährdeten.
In diesem Kontext hebt er hervor, dass die Verordnung die Rechtsstaatlichkeit nicht durch einen Sanktionsmechanismus schützen solle, der dem von Art. 7 EUV ähnele, sondern ein Instrument der finanziellen Konditionalität zur Erhaltung dieses Wertes der Union schaffe. Das Ermessen der Unionsorgane umfasse diese gesetzgeberische Option, die nicht als offensichtlich fehlerhaft eingestuft werden könne, da die Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit für das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Finanzen und die korrekte Ausführung des Haushaltsplans der Union von grundlegender Bedeutung sein könne. Überdies setze die Verordnung eine hinreichend unmittelbare Verbindung zwischen dem Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans voraus, so dass sie nicht bei allen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit anwendbar sei, sondern nur bei jenen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Haushaltsführung der Union stünden. Ferner sei der Schutz der Endbegünstigten der aus Haushaltsmitteln der Union finanzierten Ausgabenprogramme eine typische und logische Maßnahme bei der geteilten Verwaltung solcher Mittel, damit eine finanzielle Berichtigung durch die Unionsorgane den Mitgliedstaat treffe, der den Verstoß begangen habe, und nicht die Begünstigten, die nichts mit ihm zu tun hätten. Wie sowohl die Zielsetzung der Verordnung als auch ihr Inhalt zeigten, stelle sie eine Haushaltsvorschrift im Sinne von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV dar, so dass dieser Artikel als Rechtsgrundlage für ihren Erlass habe dienen können.
Zweitens stellt der Generalanwalt fest, dass Art. 7 EUV den Unionsgesetzgeber nicht ermächtige, einen anderen analogen Mechanismus einzuführen, der das gleiche Ziel des Schutzes der Rechtsstaatlichkeit verfolge und ähnliche Sanktionen vorsehe. Art. 7 EUV stehe dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch andere als die dort vorgesehenen Instrumente jedoch nicht entgegen, sofern sich ihre wesentlichen Merkmale von denen des durch diesen Artikel gewährleisteten Schutzes unterschieden. Der Gerichtshof habe insbesondere für die Bereiche des Europäischen Haftbefehls und der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte bereits entschieden, dass die Verletzung von Werten der Union Konsequenzen habe, auch ohne Rückgriff auf Art. 7 EUV.
Rechtsnormen der Unionsorgane, mit denen in spezifischen Bereichen auf bestimmte Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mit Auswirkungen auf die Haushaltsführung reagiert werden solle, seien mit den Verträgen vereinbar. Während Art. 7 EUV die Verhängung von Maßnahmen von der Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte der Union durch einen Mitgliedstaat abhängig mache, gelte die Verordnung nur für Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigten oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohten.
Der Mechanismus der Verordnung ähnele anderen Instrumenten der finanziellen Konditionalität und der Haushaltsführung in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts und nicht dem von Art. 7 EUV. Überdies müsse nach Art. 7 EUV, anders als bei der Verordnung, eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung irgendeines Wertes der Union und nicht allein der Rechtsstaatlichkeit vorliegen. Deshalb gelte die in Art. 269 AEUV in Bezug auf Art. 7 EUV vorgesehene Beschränkung der Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht für die Verordnung, deren Rechtmäßigkeit er gemäß Art. 263 AEUV umfassend prüfen könne. Desgleichen unterscheide sich das Verfahren in Art. 6 der Verordnung von dem Verfahren in Art. 7 EUV und verstoße weder gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, da die Zuweisung von Durchführungsbefugnissen an den Rat unter den weiten Begriff der Ausführung des Haushaltsplans in Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV falle, noch gegen Art. 317 AEUV, mit dem der Kommission die Befugnis zur Ausführung des Haushaltsplans im engeren Sinne übertragen werde. Infolgedessen sei die Verordnung mit Art. 7 EUV vereinbar.
Drittens führt der Generalanwalt aus, da der Begriff der Rechtsstaatlichkeit als Wert der Union weit gefasst sei, sei der Unionsgesetzgeber befugt, ihn für einen spezifischen materiellen Bereich wie den der Ausführung des Haushaltsplans zwecks Schaffung eines Mechanismus der finanziellen Konditionalität zu präzisieren. In der Verordnung würden sieben Rechtsgrundsätze aufgezählt3, die im Licht der anderen in Art. 2 EUV verankerten Werte und Grundsätze der Union auszulegen seien. Überdies gebe es in Art. 3 der Verordnung einige Hinweise auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, und ihr Art. 4 Abs. 2 enthalte eine indikative Liste von Umständen, unter denen Verstöße gegen diese Grundsätze vorliegen könnten. Sie grenze damit ein, welche Verstöße zum Erlass der Konditionalitätsmaßnahmen der Verordnung führen könnten, wobei ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union bestehen müsse. Beides zeige das Bestreben des Gesetzgebers, die Anwendung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu erleichtern und die Rechtssicherheit zu erhöhen.
Die Beschreibung der Rechtsstaatlichkeit unter Bezugnahme auf die genannten Grundsätze genüge den Mindestanforderungen an Klarheit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit, die der Grundsatz der Rechtssicherheit aufstelle. Die Mitgliedstaaten verfügten nämlich über einen hinreichenden Kenntnisstand in Bezug auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen, zumal die meisten von ihnen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt worden seien.
Unter diesen Umständen schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die von Ungarn und Polen erhobenen Nichtigkeitsklagen abzuweisen.
1 Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L 433I, S. 1).
2 Nach diesem Artikel kann gegen einen Mitgliedstaat bei einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union oder der eindeutigen Gefahr einer solchen Verletzung ein Verfahren eingeleitet werden.
3 Die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, die transparente, rechenschaftspflichtige, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren voraussetzen, der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des wirksamen Rechtsschutzes – einschließlich des Zugangs zur Justiz – durch unabhängige und unparteiische Gerichte, auch in Bezug auf Grundrechte, der Gewaltenteilung sowie der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz.