Das Bundesverwaltungsgericht hat am 26.01.2021 zum Aktenzeichen 1 C 42.20 entschieden, das das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) bei Bekanntsein des Aufenthaltsortes eines Asylbewerbers, der sich im sogenannten „offenen“ Kirchenasyl befindet, diesen nicht (mehr) als „flüchtig“ im Sinne der Dublin III-VO ansehen und deswegen die Frist zur Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht auf 18 Monate verlängern kann.
Aus der Pressemitteilung des BVerwG Nr. 7/2021 vom 27.01.2021 ergibt sich:
Die Klägerin, eine iranische Staatsangehörige, reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann mit einem durch das polnische Konsulat in Teheran erteilten Schengen-Visum in das Bundesgebiet ein. Sie beantragten im September 2018 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Nachdem die polnischen Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge anerkannt hatten, lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 22.10.2018 den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab und ordnete deren Abschiebung nach Polen an. Hiergegen erhob die Klägerin Klage; ihren Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht Anfang Januar 2019 ab. Die Klägerin hielt sich ab dem 28.01.2019 im Kirchenasyl auf, ohne zunächst den Behörden ihren neuen Aufenthaltsort mitgeteilt zu haben. Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 01.04.2019 dem Bundesamt ihren Aufenthalt im Kirchenasyl offengelegt hatte, verlängerte dieses Anfang Mai 2019 die Überstellungsfrist auf 18 Monate, weil die Klägerin flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO sei. Im März 2020 hatten die polnischen Behörden dem Bundesamt mitgeteilt, dass vorerst keine Überstellungen von und nach Polen erfolgten. Das Bundesamt setzte daraufhin Mitte April 2020 die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO bis auf Weiteres aus, weil im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie derzeit Dublin-Überstellungen nicht möglich seien.
Das Verwaltungsgericht hatte die Klage abgewiesen. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylgesuchs sei nicht gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen, weil diese zunächst durch den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz unterbrochen und dann wegen Flüchtigseins der Klägerin wirksam auf 18 Monate bis zum 07.07.2020 verlängert worden sei. Die Klägerin sei i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO flüchtig gewesen, da sie sich seit dem 28.01.2019 nicht mehr in der ihr zugewiesenen Unterkunft aufgehalten habe, ohne die zuständigen Behörden über ihren Aufenthaltsort zu informieren. Die vor Ablauf der verlängerten Überstellungsfrist erfolgte Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt habe die Frist erneut unterbrochen, weil sie aus einem sachlich gerechtfertigten Grund erfolgt sei.
Das BVerwG hat der (Sprung-)Revision der Klägerin stattgegeben.
Nach Auffassung des BVerwG ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylgesuchs durch den Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist bereits Mitte 2019 auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, weil das Bundesamt diese Frist nicht wirksam verlängert hat. Denn die Klägerin sei im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung des Bundesamtes nicht (mehr) flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz Alt. 2 Dublin III-VO gewesen, weil zu diesem Zeitpunkt ihr Aufenthaltsort im Kirchenasyl dem Bundesamt bekannt war. Eine Überstellung der Klägerin sei dann aber rechtlich und tatsächlich (wieder) möglich gewesen. Daran ändere die (rechtlich nicht verbindliche) Verfahrensabsprache zwischen dem Bundesamt und den Kirchen zum Vorgehen bei Personen, die sich im Kirchasyl befinden, nichts. Sie beeinflusse insbesondere nicht die Auslegung des unionsrechtlichen Rechtsbegriffs „flüchtig“ i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO. Der Sachverhalt gebe keinen Anlass zur abschließenden Prüfung, ob und unter welchen Voraussetzungen in Ausnahmefällen trotz bekannter Anschrift ein (fortbestehendes) Flüchtigsein i.S.d. Unionsrechts angenommen werden könne.