Der Europäische Gerichtshof hat am 06.10.2021 zum Aktenzeichen C-35/20 entschieden, dass ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung von Sanktionen verpflichten kann, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat reisen, unabhängig vom benutzten Verkehrsmittel und Weg; jedoch schließt das Unionsrecht unverhältnismäßige Sanktionen wie eine Geldstrafe in Höhe von 20% des durchschnittlichen Nettomonatseinkommens des Täters aus.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 172/2021 vom 06.10.2021 ergibt sich:
A, ein finnischer Staatsangehöriger, reiste im August 2015 an Bord eines Vergnügungsboots von Finnland nach Estland und zurück. Während dieser Reise durchquerte er die internationalen Gewässer zwischen Finnland und Estland. Er war zwar Inhaber eines gültigen finnischen Passes, führte diesen jedoch während dieser Reise nicht mit sich. Daher konnte A bei einer in Helsinki bei seiner Rückkehr durchgeführten Grenzkontrolle weder diesen Pass noch ein anderes Reisedokument vorlegen. Seine Identität konnte jedoch anhand seines Führerscheins festgestellt werden.
Die Syttäjä (Staatsanwaltschaft, Finnland) leitete gegen A wegen der Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall ein Strafverfahren ein. Nach finnischem Recht müssen nämlich finnische Staatsangehörige unter Androhung von strafrechtlichen Sanktionen einen gültigen Personalausweis oder Pass mit sich führen, wenn sie mit einem beliebigen Verkehrsmittel und auf einem beliebigen Weg in einen anderen Mitgliedstaat reisen oder wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in das Hoheitsgebiet Finnlands einreisen. Im ersten Rechtszug wurde festgestellt, dass A durch das Überschreiten der finnischen Staatsgrenze, ohne ein Reisedokument mitzuführen, eine Straftat begangen habe. Gegen ihn wurde jedoch keine Strafe verhängt, weil es sich um eine minder schwere Straftat gehandelt habe und der Gesamtbetrag der Geldstrafe von 95.250 Euro, der gemäß der im finnischen Strafrecht vorgesehenen Regelung auf der Grundlage seines durchschnittlichen Monatseinkommens hätte gegen ihn verhängt werden können, überhöht gewesen wäre.
Da dem von der Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsmittel nicht stattgegeben wurde, legte diese beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) Rechtsmittel ein. Dieses Gericht hat sodann beschlossen, den Gerichtshof dazu zu befragen, ob die im vorliegenden Fall in Rede stehenden finnischen Rechtsvorschriften und insbesondere die Strafvorschriften, nach denen das Überschreiten der Staatsgrenze ohne gültigen Personalausweis oder Pass mit einer Geldstrafe bestraft wird, die 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters betragen kann, mit dem Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV1 vereinbar sind.
Würdigung durch den Gerichtshof
In seinem Urteil klärt der Gerichtshof zunächst die Voraussetzungen, unter denen bei Reisen in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person besitzt, eine Verpflichtung zum Mitführen eines Personalausweises oder Reisepasses unter Androhung von – gegebenenfalls strafrechtlichen – Sanktionen auferlegt werden kann.
Hierzu stellt er erstens fest, dass die Wendung „einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen“ in der Richtlinie 2004/382, mit der Art. 21 AEUV konkretisiert wird, bedeutet, dass die Ausübung des Rechts der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, davon abhängt, dass sie eines dieser beiden gültigen Dokumente bei sich tragen. Diese mit der Freizügigkeit zusammenhängende Formalität3 soll die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit erleichtern, indem gewährleistet wird, dass jede Person, der dieses Recht zusteht, im Rahmen einer möglichen Überprüfung ohne Schwierigkeiten als solche identifiziert wird. Folglich trägt ein Mitgliedstaat, der seine Staatsangehörigen verpflichtet, eines dieser Dokumente mit sich zu führen, wenn sie die Staatsgrenze überschreiten, um in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen, zur Einhaltung dieser Formalität bei.
Was zweitens die Sanktionen betrifft, die gegen einen Unionsbürger, der diese Formalität missachtet, verhängt werden können, stellt der Gerichtshof unter Verweis auf die diesbezügliche Autonomie der Mitgliedstaaten klar, dass die Mitgliedstaaten – gegebenenfalls strafrechtliche – Sanktionen vorsehen können, sofern diese insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung beachten.
Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat reisen, unabhängig vom benutzten Verkehrsmittel und Weg. Die Modalitäten dieser Sanktionen müssen jedoch mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung, vereinbar sein.
Zu demselben Ergebnis gelangt der Gerichtshof im Übrigen hinsichtlich des Erfordernisses, bei der Einreise eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet aus einem anderen Mitgliedstaat einen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen. Er stellt jedoch klar, dass bei dieser Rückkehr des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet zwar die Vorlage eines Personalausweises oder Reisepasses verlangt werden kann, die Verpflichtung, ein solches Dokument mit sich zu führen, aber keine Bedingung für das Recht auf Einreise sein kann.
Schließlich prüft der Gerichtshof die Frage, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafe4 Strafvorschriften wie denen entgegenstehen, die im finnischen Recht für das Überschreiten der Staatsgrenze ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass vorgesehen sind.
Insoweit stellt er fest, dass es den Mitgliedstaaten zwar freisteht, eine Geldstrafe zu verhängen, um den Verstoß gegen ein Formerfordernis in Bezug auf die Ausübung eines durch das Unionsrecht verliehenen Rechts zu ahnden, doch muss diese Sanktion in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Verstoßes stehen. Wird aber, wie im vorliegenden Fall, die Pflicht, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen, von einem Freizügigkeitsberechtigten verletzt, der Inhaber eines solchen Dokuments ist, dieses aber bei seiner Reise lediglich nicht mit sich führt, so ist die Straftat von minderer Schwere. Daher steht eine schwere Geldstrafe, wie etwa eine Geldstrafe, die 20 % des durchschnittlichen Nettomonatseinkommens des Täters beträgt, nicht im Verhältnis zur Schwere dieses Verstoßes.
1 Im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex).
2 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).
3 7. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38.
4 Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.