Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster hat am 28.08.2020 zum Aktenzeichen 4 B 1260/20.NE und 4 B 1261/20.NE entschieden, dass der Einzelhandel in den Innenstädten von Lemgo und Bad Salzuflen nicht an vier Sonntagen im zweiten Halbjahr 2020 öffnen darf, um den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie für die örtlichen Einzelhandelsstrukturen und zentralen Versorgungsbereiche entgegenzuwirken.
Aus der Pressemitteilung des OVG NRW vom 28.08.2020 ergibt sich:
Die Entscheidungen betreffen in Bad Salzuflen die Sonntage am 30.08., 13.09. und 27.09. sowie 11.10.2020, und in Lemgo am 30.08., 18.10. sowie 06.12. und 27.12.2020. Beide Städte orientierten sich eng an einem Erlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie NRW vom 09.07.2020, aktualisiert am 14.07.2020, in dem entsprechende Verordnungen wegen der landesweiten gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf den stationären Einzelhandel nach örtlicher Prüfung für zulässig gehalten worden waren.
Das OVG Münster hat entsprechende Verordnungen vom 19.08. und 20.08.2020 auf Anträge der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di außer Vollzug gesetzt.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts sind die Verordnungen nach dem gebotenen strengen Maßstab für die Aussetzung von Rechtsnormen offensichtlich rechtswidrig und nichtig. Sie würden dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleiste und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiere, zweifelsfrei nicht gerecht.
Nach ständiger und kürzlich vom BVerwG auch für die Anwendung des Ladenöffnungsgesetzes NRW bestätigter höchstrichterlicher Rechtsprechung dürfe der Gesetz- und Verordnungsgeber Ausnahmen von der regelmäßigen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen nur zulassen, wenn sie durch einen zureichenden Sachgrund von ausreichendem Gewicht bezogen auf den zeitlichen, räumlichen und gegenständlichen Umfang der jeweiligen Sonntagsöffnung gerechtfertigt und für das Publikum am betreffenden Tag als Ausnahme von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen seien.
Bezogen auf die hier u.a. angeführten gesetzlich ausdrücklich geregelten Ziele (Erhalt eines vielfältigen stationären Einzelhandelsangebots und zentraler Versorgungsbereiche sowie Belebung der Innenstädte) sei bereits letztinstanzlich für das Landesrecht geklärt, dass sie in der Regel allenfalls dann das verfassungsrechtlich erforderliche Gewicht aufweisen könnten, wenn aus anderen Gründen ohnehin mit einem besonderen Besucherinteresse zu rechnen sei und über den davon erfassten Bereich hinaus zum Ausgleich besonderer örtlicher Problemlagen oder struktureller Standortnachteile der Freigabebereich auf hiervon betroffene Bereiche erweitert werden solle.
Die angegriffenen Regelungen trügen dem verfassungsrechtlich geforderten Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht ausreichend Rechnung. Sie stellten bereits nicht sicher, dass die für die Verkaufsstellenfreigabe angeführten Sachgründe für das Publikum während der freigegebenen Zeiten als gerechtfertigte Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen seien. Stattdessen prägten die beschlossenen sortimentsübergreifenden Sonntagsöffnungen den Charakter des jeweiligen Tages in den ganzen Innenstadtgebieten der Antragsgegnerinnen in besonderer Weise. Sie dienten erklärtermaßen der Zielsetzung, an den festgesetzten Sonntagen Kaufkundschaft in die Innenstadt zu locken und hierdurch Ladeninhabern dort die Möglichkeit zu bieten, nach Verlusten und ausgefallenen verkaufsoffenen Sonntagen während der Corona-Krise Umsatz nachzuholen. Von ihnen gehe eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeit und Betriebsamkeit aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet werde.
Im Wesentlichen seien Sachgründe angeführt worden, die das Ministerium im ganzen Land gleichermaßen als gegeben ansehe, die bis Ende des Jahres praktisch überall für jeden Sonntag angeführt werden könnten und die schon deswegen das verfassungsrechtlich erforderliche Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht wahren und zur Begründung einer auch am Gleichheitssatz zu messenden örtlichen Ausnahmeregelung ungeeignet seien. Damit werde die Darlegungs- und Beweislast für die Zulässigkeit von Sonntagsöffnungen abweichend vom verfassungsrechtlichen Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt. Die bloße Beschränkung der Zahl der freigegebenen Sonntage stelle nach höchstrichterlicher Rechtsprechung noch keinen hiervon zu unterscheidenden Sachgrund dar.
Die Annahme, die Einnahmemöglichkeiten durch Ladenöffnungen von Montag bis Samstag reichten zur Bekämpfung der Gefährdungslage nicht aus, greife ebenfalls nicht durch. Zwar hätten einige Branchen, die in den jeweiligen Innenstädten besonders vertreten seien, über viele Wochen im Frühjahr 2020 wegen der Krise schließen müssen und keine Umsätze generieren können. Die an Werktagen bereits seit einigen Monaten wieder unbegrenzt verfügbaren Öffnungszeiten ließen aber für die Befriedigung des Erwerbsinteresses der Einzelhandelsbetriebe – auch soweit hieran gesellschafts- oder standortpolitische Interessen geknüpft seien – umfassend Raum. Nach vorliegenden Einzelhandelsstatistiken für Bund und Land habe der Einzelhandelsumsatz im ersten Halbjahr 2020 insgesamt sogar leicht zugenommen, wobei einzelne Wirtschaftszweige von der Krise besonders profitiert hätten (z.B. Lebensmittel, Bau- und Heimwerkerbedarf, Sportartikel, Fahrräder sowie Geräte der IT-Technik) und andere erhebliche Einbußen zu verzeichnen hätten (z.B. Bekleidung, Schuhe, Bücher und Kraftstoffe). Neben dem Versandhandelsumsatz, der besonders stark gewachsen sei, habe in NRW aber auch der Umsatz im Einzelhandel in Verkaufsräumen, der hier besonders gefördert werden solle, trotz fortbestehender Hygieneauflagen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum insgesamt, wenn auch nur leicht, real zugenommen.
Während den geltend gemachten Gefährdungen von Einzelhandelsstrukturen zielgerichteter auf andere Weise grundsätzlich an Werktagen begegnet werden könne, habe der Schutz des grundsätzlich arbeitsfreien Sonntags gerade angesichts der in der noch nicht überwundenen Corona-Krise zunehmend erfolgten Verwischung von Alltagsrhythmen weiterhin besonderes Gewicht.
Die Beschlüsse sind unanfechtbar.