Keine Ausweisung eines ausländischen Straftäters

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 06. Dezember 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 860/21 entschieden, dass die Ausweisung eines ausländischen Straftäters verfassungswidrig ist.

Der (…) in der Türkei geborene Beschwerdeführer türkischer Staatsangehörigkeit reiste 1993 in das Bundesgebiet ein und wurde nach erfolglos gebliebenem Asylverfahren 1998 in die Türkei abgeschoben. Dort heiratete er 2001 eine deutsche Staatsangehörige (nachfolgend: Ehefrau), mit der er bis heute kinderlos verheiratet ist und zusammenlebt; im gleichen Jahr erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug und kehrte nach Deutschland zurück.

2003 verurteilte ihn das Landgericht Hamburg wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln – hier: Heroin – in nicht geringer Menge zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe. 2004 wies ihn die Ausländerbehörde Hamburg aus. Nach Haftentlassung reiste der Beschwerdeführer im Oktober 2006 freiwillig in die Türkei aus und kehrte 2008 mit einem Visum zur Familienzusammenführung wieder zu seiner Ehefrau in das Bundesgebiet zurück. Im Hamburger Bahnhofsviertel betrieb er als Selbständiger ein Wettbüro. Er erhielt erneut eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, später eine Niederlassungserlaubnis.

2015 verurteilte ihn das Landgericht Hamburg wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln – erneut: Heroin – in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten. Zuvor hatte sich der Beschwerdeführer 2013 in die Niederlande abgesetzt, um dem deutschen Strafverfahren zu entgehen. Dort befand er sich – wohl wegen Verwendung falscher Ausweisdokumente – für zwei Monate in Strafhaft, begab sich anschließend in die Türkei und stellte sich im Dezember 2014 in Kenntnis des zwischenzeitlich erlassenen Haftbefehls der Polizei in Deutschland.

Ab April 2015 nahm der Beschwerdeführer eine abhängige Vollzeitbeschäftigung als Verteiler von Wurfsendungen auf. Im März 2016 trat er seine Strafhaft an und wurde im Juni 2016 in den offenen Vollzug verlegt. Seine Beschäftigung setzte er als Freigänger fort.

Mit Beschluss vom 28. Dezember 2017 setzte das Landgericht Hamburg die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus und die Bewährungszeit auf vier Jahre fest. Im Hinblick auf die positive Entwicklung des Beschwerdeführers im Strafvollzug und der vorliegenden Voraussetzungen für seine soziale Eingliederung sei eine positive Kriminalitätsprognose zu stellen. Die Kammer habe im Rahmen zweier mündlicher Anhörungen den Eindruck gewonnen, dass der Beschwerdeführer durch die diesmalige Strafverbüßung wirklich beeindruckt und er fest entschlossen sei, nicht mehr straffällig zu werden. Diese Einschätzung stehe auch im Einklang mit dem vom Landgericht Hamburg im November 2017 eingeholten psychologischen Prognosegutachten (nachfolgend: Prognosegutachten). Die Sachverständige komme hierin überzeugend zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit für die Begehung von Straftaten unter den derzeitigen Rahmenbedingungen (stabile Arbeitsstelle, intakte Ehe) gering sei. Die Bewährungszeit endete inzwischen am 15. Juli 2021.

Bereits zuvor, mit Bescheid vom 28. März 2017 wies die Ausländerbehörde Hamburg den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet aus und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung in die Türkei zur Ausreise auf. Das durch die Ausweisung bedingte Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf sechs Jahre ab nachgewiesener Ausreise. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Ausländerbehörde mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2017 zurück.

In der gegen die Ausweisung erhobenen Klage berief sich der Beschwerdeführer unter anderem darauf, dass das im Bewährungsverfahren eingeholte Prognosegutachten und der Strafaussetzungsbeschluss zeigten, dass von ihm keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mehr ausgehe. Diesen Beurteilungen komme erhebliche indizielle Bedeutung für das Ausweisungsverfahren zu. Eine Wiederholungsgefahr lasse sich nach dem Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 – nur bejahen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren als der der Strafvollstreckungskammer zur Verfügung gestandenen Tatsachengrundlage getroffen werde.

Mit hier angegriffenem Urteil vom 18. September 2019 wies das Verwaltungsgericht Hamburg die Klage gegen die Ausweisung ab. Die Ausweisung sei an § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen. Es sei von einer relevanten Wiederholungsgefahr auszugehen. Die protektiv wirkenden Faktoren, die die Gutachterin im Rahmen ihrer Beurteilung zu der Annahme eines geringen Rückfallrisikos hätten kommen lassen, könnten jederzeit entfallen. Die Kammer sei aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden breiteren Tatsachengrundlage, nämlich unter Berücksichtigung der beigezogenen Akten, der weiteren Entwicklung und vor allem nach dem Eindruck, den sie vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung gewonnen habe, zu der Überzeugung gelangt, seine Persönlichkeit habe sich postdeliktisch noch nicht soweit gefestigt, dass es ihm auch in wirtschaftlich oder persönlich schwierigen Situationen gelingen werde, nicht erneut in ähnlicher Weise straffällig zu werden. Für eine noch instabile Persönlichkeitsstruktur spreche unter anderem der Umstand, dass er sich immer noch vom Bahnhofsviertel fernhalte, um kriminogene Kontakte zu vermeiden. Damit zeige er, dass er offensichtlich noch immer nicht in einem Maße gefestigt sei, um auch bei einem Zusammentreffen mit früheren Mittätern dem Reiz der Begehung einer neuen Straftat standhalten zu können. Außerdem stützt sich das Verwaltungsgericht auf eine vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vorgelegte individuelle Patienteninformation vom Juli 2019, wonach bei ihm die Diagnose/Verdachtsdiagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, sowie Angststörungen festgestellt worden seien. Immerhin habe gerade sein psychischer Zustand – das Prognosegutachten stellte insoweit auf psychische Belastungen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten des Wettbüros ab – den Beschwerdeführer nach eigenem Vorbringen in der Vergangenheit veranlasst, erneut straffällig zu werden. Die Abwägung ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers an seinem Verbleib im Bundesgebiet überwiege und seine Ausweisung zur Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich sei.

Im hiergegen gerichteten Berufungszulassungsantrag brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, dass es an einer konkreten Benennung der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Wiederholungsgefahr fehle. Anhaltspunkte für ein absehbares Scheitern der Ehe oder einen absehbaren Verlust des Arbeitsplatzes nenne das Verwaltungsgericht nicht. Die Ehe bestehe seit 2001 und habe trotz der Inhaftierungen Bestand. Auch das Arbeitsverhältnis bestehe inzwischen seit mehreren Jahren fort.

Mit hier angegriffenem Beschluss vom 8. April 2021 lehnte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht die Berufungszulassung ab. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nicht. Es komme im Ergebnis nicht darauf an, ob dem Verwaltungsgericht eine breitere Tatsachengrundlage zur Verfügung gestanden habe. Die Abweichung von der Legalprognose der Strafvollstreckungskammer sei im Ergebnis auch mit Blick auf den Rang der hier bedrohten Rechtsgüter gerechtfertigt. Die Annahme einer Wiederholungsgefahr sei auch in der Sache gerechtfertigt. Die protektiv wirkenden Faktoren ließen die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit des Beschwerdeführers demnach zwar geringer erscheinen, die Gefahr sei gemessen an dem hier mit Blick auf die gefährdeten Rechtsgüter einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstab damit aber nicht vollständig entfallen. Die allgemeinen Unwägbarkeiten wirkten im Hinblick auf die künftigen Lebensumstände des Beschwerdeführers zu seinen Lasten aus, ohne dass es konkreter Anhaltspunkte für ein bevorstehendes Scheitern der Ehe oder den Verlust des aktuellen Arbeitsplatzes bedürfe. Ausreichend sei, dass im Falle des Beschwerdeführers ernsthaft mit neuen Betäubungsmitteldelikten gerechnet werden müsse, wenn die derzeit günstigen Umstände und Bewährungshilfe künftig entfallen sollten, weil eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht feststellbar sei. Davon abgesehen hätten die Beziehung zu seiner Ehefrau sowie sonstige familiäre Beziehungen im Bundesgebiet den Beschwerdeführer auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung schwerer Straftaten abgehalten. Vor diesem Hintergrund komme es nicht darauf an, ob sich der Beschwerdeführer – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einem schlechteren psychischen Zustand befunden habe, als es die Gutachterin angenommen habe.

Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Hamburgische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. Mai 2021 zurück.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die gebotene Abwägung zwischen den Ausweisungs- und den grundrechtlich geschützten Bleibeinteressen ist nicht nachvollziehbar, weil die Annahmen der Gerichte zum Vorliegen einer Wiederholungsgefahr angesichts der tatsächlichen Indizwirkung des Prognosegutachtens von November 2017 nicht ausreichen.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfGE 35, 382 <399>). Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 AufenthG). Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings – vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 90, 145 <171 f.>; vgl. auch BVerfGE 75, 108 <154 f.>; 80, 137 <153>).

Die hierfür erforderliche einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidungen erstreckt sich allerdings darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht (BVerfGK 12, 37 <41>). Verlangt die gesetzliche Grundlage der Ausweisung, wie § 53 Abs. 3 AufenthG, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, so sind Anhaltspunkte dafür zu benennen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutende Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. zur Vorgängernorm des § 48 Abs. 1 AuslG: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 15). Die Feststellung entsprechender Anhaltspunkte durch die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte muss nachvollziehbar und darf nicht willkürlich sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 10).

Dabei kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat, namentlich die Beteiligung am illegalen Heroinhandel, angesichts der mit einem solchen Verhalten regelmäßig verbundenen erheblichen kriminellen Energie einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen. Es ist von Verfassungs wegen daher grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn in diesen Fällen auch dann, wenn – wie im Fall des § 53 Abs. 3 AufenthG – eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen ausscheidet, die für eine spezialpräventive Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr angenommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 15 m.w.N.). Auch schließt eine positive Entscheidung über die Straf(rest)aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 – 2 BvR 130/10 -, Rn. 36: „tatsächliches Gewicht“ und „wesentliche Bedeutung“). Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung. Solche Gründe können zum Beispiel dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 – 2 BvR 130/10 -, Rn. 36; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 -, Rn. 22, 24). Dabei ist der gegenüber der strafgerichtlichen oder strafvollstreckungsrechtlichen Beurteilung regelmäßig späteren Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts Rechnung zu tragen (BVerwGE 121, 297; 121, 315; 130, 20). Demgegenüber ist es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Fachgerichte bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie. Ein allgemeines Erfahrungswissen darf nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (BVerfGK 11, 153 <162>; 12, 37 <41 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 -, Rn. 19).

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

Dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 8. April 2021, mit dem der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wird, lässt sich das Vorliegen von Gründen für die Annahme einer Wiederholungsgefahr, die den genannten Anforderungen entsprechen, nicht entnehmen.

Das Oberverwaltungsgericht hat ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der im erstinstanzlichen Urteil (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) angenommenen Wiederholungsgefahr mit der Begründung verneint, es teile die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts bereits auf der vom Landgericht in seiner Strafaussetzungsentscheidung herangezogenen Tatsachengrundlage. Es komme daher nicht darauf an, ob dem Verwaltungsgericht eine breitere Tatsachengrundlage zur Verfügung gestanden habe als dem Landgericht.

Mit dieser Begründung verkennt das Oberverwaltungsgericht seine verfassungsrechtliche Pflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG, alle für die Abwägung in Ausweisungssachen wesentlichen Umstände mit ihrem entsprechenden Gewicht in die Abwägung einzustellen. Seine Argumentation vermag – auch wenn man angesichts der Schwere der zu befürchtenden Straftat einen abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab anlegt – die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht zu tragen. Dass das Oberverwaltungsgericht im April 2021 allein auf Grundlage der vom Landgericht Hamburg im Dezember 2017 herangezogenen Tatsachen zu einer abweichenden Bewertung der Gefahrenprognose gelangen will, ist auch in zeitlicher Hinsicht nicht mehr nachvollziehbar.

Die Gefahrenprognose der Strafvollstreckungskammer beruhte insbesondere auf dem im November 2017 erstellten Prognosegutachten, das dem Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt ein geringes Rückfallrisiko attestierte. Dabei stellte das Gutachten positive wie negative Prognosegesichtspunkte einander gegenüber.

Zwar ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die gleichen gutachterlichen Feststellungen sowohl eine strafrechtlich positive als auch eine aufenthaltsrechtlich negative Prognose stützen können. Das Oberverwaltungsgericht lässt jedoch eine überzeugende Begründung vermissen, warum im Fall des Beschwerdeführers bei einem aufenthaltsrechtlichen Prognosehorizont und Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine ernsthafte Wiederholungsgefahr besteht. Das Gutachten stützt seine positive Prognose maßgeblich darauf, dass eine Veränderung der Einstellung und der Lebensumstände des Beschwerdeführers gegenüber dem Begehungszeitpunkt der letzten Tat stattgefunden habe. Darin sieht es eine Reihe von günstigen, protektiv wirkenden Faktoren. Davon geht auch das Oberverwaltungsgericht aus. Es begründet die Wiederholungsgefahr jedoch damit, dass es zu den allgemeinen Unwägbarkeiten im Hinblick auf die künftigen Lebensumstände des Beschwerdeführers zähle, dass diese protektiven Faktoren künftig entfallen könnten. Auf konkrete Anhaltspunkte für ein bevorstehendes Scheitern der Ehe oder den Verlust des aktuellen Arbeitsplatzes komme es dabei nicht an, „weil eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des [Beschwerdeführers] nicht feststellbar sei“.

Es erschließt sich nicht, mit welchen Gründen das Oberverwaltungsgericht vom Fehlen einer solchen nachhaltigen Veränderung ausgeht. Das Prognosegutachten benennt substantielle Veränderungen, insbesondere, dass der Beschwerdeführer sich der Strafverfolgung gestellt habe und einen Schlussstrich unter sein vergangenes Leben ziehen wolle, sowie dass er inzwischen nicht mehr im Bahnhofsviertel selbständig tätig, sondern räumlich getrennt in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt sei. Vor diesem Hintergrund hätte eine abweichende Bewertung des Oberverwaltungsgerichts die Darlegung verlangt, welche weiteren – nicht feststellbaren – Veränderungen bei Zugrundelegung des aufenthaltsrechtlichen Prognosemaßstabs erforderlich wären, um eine Wiederholungsgefahr zu verneinen. Das Oberverwaltungsgericht verweist insoweit jedoch nur auf die Umstände, in denen der Beschwerdeführer die Taten begangen hatte, sowie darauf, dass er seine Tatbeiträge bis zuletzt bagatellisiere, und leitet daraus eine geringe Hemmschwelle des Beschwerdeführers für die Begehung entsprechender Straftaten ab. Damit erschließt sich aber nicht, welche weiteren Veränderungen, über die von der Sachverständigen im November 2017 in Rechnung gestellten hinaus, es für erforderlich hält. Dies gilt umso mehr, als es dahinstehen lässt, ob die Argumentation des Verwaltungsgerichts überzeugt, dass der Beschwerdeführer „mittlerweile sechs Jahre nach der Tat – offensichtlich noch immer nicht in einem Maße gefestigt sei, um auch bei einem Zusammentreffen mit früheren Mittätern dem Reiz der Begehung einer neuen Straftat standhalten zu können“.

Für die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht feststellbar sei, fehlt es insoweit an einer – im Rahmen eines Berufungsverfahrens durchzuführenden – Tatsachenermittlung. Diese hat das Oberverwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass auch ohne die in Zweifel gezogenen Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts die Entscheidung keinen ernsthaften Zweifeln begegne. Damit fehlt eine tatsächliche Grundlage für die Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Urteils des Verwaltungsgerichts 2019 und ebenso zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts 2021 eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht feststellbar gewesen sei.

Die dadurch unterbliebene Würdigung der in den Jahren 2018 bis 2021 weiterhin stabil gebliebenen persönlichen Lebenssituation begründet ein verfassungsrechtlich relevantes Abwägungsdefizit.

Auch das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 18. September 2019 genügt den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Zwar stützt das Verwaltungsgericht seine Feststellung einer ernsthaften Wiederholungsgefahr auf eine umfassendere und aktuelle Tatsachengrundlage. Es hat den Beschwerdeführer angehört und Stellungnahmen einer Bewährungshelferin sowie eine aktuelle (Verdachts-)Diagnose im Rahmen einer ambulanten psychotherapeutischen Sprechstunde berücksichtigt. Allerdings benennt es keine Gründe, die eine Abweichung von dem für die Strafaussetzungsentscheidung gestellten Prognosegutachten tragen könnten.

Das Verwaltungsgericht wertet den Umstand, dass sich der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt des Gerichts im September 2019 immer noch vom Bahnhofsviertel fernhalte, zwar als Bemühen, nicht noch einmal straffällig zu werden. Darin zeige sich aber auch, dass er offensichtlich noch immer nicht in einem Maße gefestigt sei, um auch bei einem Zusammentreffen mit früheren Mittätern dem Reiz der Begehung einer neuen Straftat standhalten zu können. Diese Argumentation findet in den Feststellungen des Verwaltungsgerichts jedoch keine Grundlage.

Zudem überzeugt die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht, der Charakter des Beschwerdeführers sei mangels Überwindung seiner Depression noch nicht ausreichend gefestigt. Das Verwaltungsgericht schließt aus der individuellen Patienteninformation im Rahmen einer ambulanten psychotherapeutischen Sprechstunde und aus dem Bericht der Bewährungshelferin, dass eine depressive Grunderkrankung bestehe, darauf, dass sich der Beschwerdeführer aktuell in einem schlechteren psychischen Zustand befinde, als die Gutachterin Ende 2017 angenommen habe. Welche Folgerungen sich mit Blick auf zukünftige Delinquenz der nunmehr erkennbaren psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers ergeben, konnte das Verwaltungsgericht allerdings nicht ohne Hinzuziehung medizinisch-psychiatrischen Sachverstands aus eigener Sachkunde feststellen (vgl. BVerwGE 144, 230).