Keine Außervollzugsetzung von Vorschriften der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung

08. Dezember 2021 -

In der Entscheidung vom 07.12.2021 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in München es abgelehnt, einzelne Vorschriften der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (15. BayIfSMV) vom 23.11.2021 (BayMBl Nr. 816, BayRS 2126-1-19-G), die durch Verordnung vom 03.12.2021 (BayMBl Nr. 841) geändert worden ist, durch einstweilige Anordnung außer Vollzug zu setzen.

Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 08.12.2021 ergibt sich:

In der vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassenen Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung werden die Schutzmaßnahmen gegen die andauernde Corona-Pandemie fortgeführt und teils erheblich verschärft. Der Antragsteller sieht durch die angegriffenen Regelungen der §§ 2 bis 5, 10, 11, 14 und 15 der Verordnung die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 100, 101 BV), die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 108 BV), die Rechte auf Gleichbehandlung (Art. 118 Abs. 1 BV), Arbeit (Art. 166 Abs. 2 BV) und auf Schutz der Familie (Art. 124 Abs. 1 BV) verletzt. Er rügt vor allem, dass die in verschiedenen Vorschriften der Verordnung vorgesehene Ungleichbehandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften unter der Prämisse, dass Letztere verstärkt zum Infektionsgeschehen und der Überlastung des Gesundheitssystems beitragen würden, zu pauschal und damit verfassungswidrig sei. Die Maskenpflicht unter freiem Himmel (§ 2 Abs. 2), das Verbot insbesondere von Weihnachtsmärkten (§ 10 Abs. 2) sowie die Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und Nicht-Genesene (§ 3) seien unverhältnismäßig. Entsprechendes gälte für die 2G plus- und 2G-Regelungen (§§ 4 und 5), die Sperrstunde und das Musikverbot (§ 11 Nrn. 1 und 3), das Verbot öffentlicher Feiern, das Alkoholverbot und die pauschalen Betriebsschließungen (§ 14). Auch die Vorschrift zum regionalen Hotspot-Lockdown (§ 15) verstoße wegen ihrer massiven Eingriffe in grundlegende Freiheitsrechte gegen das Übermaßverbot. Mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung möchte der Antragsteller die angegriffenen Bestimmungen vorläufig außer Vollzug gesetzt haben.

Der Verfassungsgerichtshof hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen überschlägigen Prüfung ist nicht davon auszugehen, dass die Popularklage im Hinblick auf die aktuell geltenden Vorschriften in der Hauptsache erfolgreich sein wird. Unabhängig von Zweifeln an der Zulässigkeit ist die Popularklage, deren Prüfungsmaßstab allein die Vorschriften der Bayerischen Verfassung, nicht Normen des – vorrangigen (Art. 31 GG) – Bundesrechts sind, jedenfalls nicht offensichtlich begründet. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber bei Erlass der angegriffenen Vorschriften die ihm durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) als bundesrechtlicher Ermächtigungsgrundlage eröffneten Spielräume überschritten oder unter Verletzung von Grundrechten der Bayerischen Verfassung ausgefüllt hat.

Die beanstandeten Regelungen wurden vor dem Hintergrund einer seit Oktober 2021 deutlich ansteigenden, exponentiell wachsenden Infektionsdynamik und einer regional teils stark ansteigenden Krankenhausbelegung mit COVID-19-Patienten und einer steigenden Zahl von Todesfällen erlassen. Die Situation auf den Intensivstationen war durch eine bayernweit insgesamt äußerst hohe Auslastung sowie regional drohende oder bereits eingetretene Überlastung gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund können die angegriffenen Schutzmaßnahmen, auch wenn sie im Vergleich zu den Vorgängervorschriften erhebliche Verschärfungen mit teils massiven Grundrechtseingriffen enthalten, jedenfalls nicht als offensichtlich verfassungswidrig qualifiziert werden. Der Normgeber hat bei Bewertung der Gefahrenlage und Ausgestaltung des Schutzkonzepts einen – vorliegend nicht offensichtlich überschrittenen – Einschätzungsspielraum.

Die vom Antragsteller bemängelte Ungleichbehandlung von Ungeimpften und Nicht-Genesenen gegenüber Geimpften und Genesenen dürfte in der aktuellen pandemischen Situation unter Berücksichtigung der Impfquote angesichts deutlicher Unterschiede im Hinblick auf das Risiko, sowohl sich selbst mit dem SARS-CoV-2-Virus zu infizieren und daran zu erkranken als auch das Virus weiter zu verbreiten und dadurch unmittelbar oder mittelbar zur Überlastung des Gesundheitssystems beizutragen, verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Nach den Erkenntnissen des Robert Koch-Instituts belegen Daten aus Zulassungsstudien wie auch aus Untersuchungen im Rahmen der breiten Anwendung, dass die in Deutschland zur Anwendung kommenden COVID-19-Impfstoffe Corona-Infektionen in einem erheblichen Maß verhindern, die Virusausscheidung bei geimpften infizierten Personen kürzer als bei ungeimpften ist, und in der Summe das Risiko, dass Menschen trotz Impfung PCR-positiv werden und das Virus übertragen, auch unter der Deltavariante deutlich vermindert ist. Eine andere Bewertung gebieten danach derzeit auch die sog. Impfdurchbrüche nicht. Es könne weiterhin für vollständig geimpfte Personen von einer anhaltend hohen Impfeffektivität gegen schwere Verläufe und einem sehr guten Schutz gegen Hospitalisationsbedürftigkeit oder tödlichen Verlauf ausgegangen werden. Hingegen zeige sich weiterhin für ungeimpfte Personen ein deutlich höheres Risiko für eine COVID-19-Erkrankung, insbesondere für eine schwere Verlaufsform. Im Übrigen entspricht es der Intention des Bundesgesetzgebers, durch die Ermächtigungsgrundlage im aktuellen § 28 a IfSG den Ländern insbesondere auch sog. 2G-Regelungen zu ermöglichen.

Die Kontakt- und Zugangsbeschränkungen nach Maßgabe der §§ 3 bis 5 15. BayIfSMV, die nach diesen Personengruppen und bereichsspezifisch nach typisiertem Infektionsrisiko differenzieren und bis hin zu einer zusätzlichen Testpflicht für Geimpfte und Genesene (2G plus) in weiten Lebensbereichen reichen, dürften trotz der mit ihnen verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffe dem Verhältnismäßigkeitsgebot genügen und auch sonst verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Dies gilt angesichts der derzeit erheblichen Gefahrenlage insbesondere auch mit Blick auf die in diesen Vorschriften enthaltenen Zugangsbeschränkungen für den Kultur- und Bildungsbereich und die damit verbundenen Eingriffe insbesondere in die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit oder die Berufsfreiheit.

Die Ausweitung der Maskenpflicht, das Verbot von „Jahresmärkten“, die zusätzlichen Beschränkungen für die Gastronomie und die Schließung bestimmter Freizeiteinrichtungen stellen sich – auch unter Berücksichtigung der weiter zunehmenden wirtschaftlichen Belastungen der Betreiber – nicht als offensichtlich verfassungswidrig dar.

Die Regelungen zu einem regionalen Hotspot-Lockdown bei sehr hoher 7-Tage-Inzidenz, durch die in erheblichem Umfang und mit massiven individuellen wie gesellschaftlichen Folgen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und psychischer Art Veranstaltungen und Einrichtungen untersagt und beschränkt werden, sind ebenfalls nicht offensichtlich verfassungswidrig. Vor dem Hintergrund einer regional teilweise bereits eingetretenen deutlichen Überlastung des Gesundheitssystems in Bayern wiegt der mit der Regelung verfolgte Schutz von Leib und Leben in Regionen, in denen das pandemische Geschehen ein besonders hohes Ausmaß erreicht und dementsprechend in absehbarer Zeit vor Ort eine weiter steigende Zahl von erkrankten und behandlungsbedürftigen Infizierten zu erwarten ist, deutlich schwerer.

Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen entsprechend den Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs zu vorangegangenen Verordnungen und unter Berücksichtigung insbesondere der aktuellen dynamischen Entwicklung des Pandemiegeschehens und der Belastungssituation in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Auch bezüglich der erst am 8. Dezember 2021 in Kraft tretenden Neuregelungen durch Ergänzung des § 10 15. BayIfSMV, mit der das sog. 2G-Erfordernis grundsätzlich auf Ladengeschäfte mit Kundenverkehr für Handelsangebote, die nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen, erstreckt wird, ist eine offensichtliche Verfassungswidrigkeit bei summarischer Prüfung im Eilverfahren nicht feststellbar; auch insoweit rechtfertigt eine Folgenabwägung keine vorläufige Außervollzugsetzung.