Der Bayerische Verfassungsgerichtshof in München hat am 09.06.2020 zum Aktenzeichen Vf. 34-VII-20 entschieden, dass die Regelungen der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung überwiegend in Kraft bleiben, lediglich eine den Bereich des Sports betreffende Ordnungswidrigkeitenvorschrift sei außer Vollzug zu setzen.
Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 09.06.2020 ergibt sich:
Mit der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (5. BayIfSMV) vom 29.05.2020 hat das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die bisherigen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 fortgeführt und bereichsweise weiter gelockert. Die Verordnung regelt u.a. ein allgemeines Abstandsgebot, Verpflichtungen zur Mund-Nasen-Bedeckung, Kontaktbeschränkungen und spezielle Besuchsverbote. Ferner enthält sie Maßgaben für verschiedene Bereiche, wie Gottesdienste, Versammlungen, Sport, Spielplätze, Freizeiteinrichtungen, Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Gastronomie, Beherbergung sowie Bildung und Kultur. Bestimmte Verstöße können als Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeld geahndet werden.
Die Antragsteller sind der Auffassung, diese Regelungen griffen in unverhältnismäßiger und teilweise gleichheitswidriger Weise in die Freiheitsrechte der Bürger ein, die die Bayerische Verfassung garantiert. Sie haben deshalb Popularklage erhoben mit dem Ziel, dass u.a. die Fünfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung für verfassungswidrig und nichtig erklärt wird. Zugleich wollen sie mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erreichen, dass bestimmte Vorschriften sofort außer Vollzug gesetzt werden.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte vor dem VerfGH München nur zu einem geringen Teil – im Hinblick auf eine Ordnungswidrigkeitenvorschrift – Erfolg. Im Übrigen hat der Verfassungsgerichtshof den Antrag abgelehnt, wobei sich die verfassungsgerichtliche Prüfung auf sämtliche Bestimmungen der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung erstreckt, wie sie von den Antragstellern im Hauptsacheverfahren auch in vollem Umfang angegriffen werden.
Die den Bereich des Sports betreffende Ordnungswidrigkeitenvorschrift in § 21 Nr. 7 5. BayIfSMV ist nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs insoweit vorläufig außer Vollzug zu setzen, als sie sich über mehrere Verweisungen in § 9 auf das allgemeine Abstandsgebot des § 1 Abs. 1 5. BayIfSMV bezieht. Denn insoweit erscheine sie bei vorläufiger Prüfung wegen Verstoßes gegen das spezielle Bestimmtheitsgebot des Art. 104 Abs. 1 BV offensichtlich verfassungswidrig.
Nach § 21 Nr. 7 handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 9 5. BayIfSMV die im Einzelnen genannten Sporteinrichtungen betreibt oder nutzt. Von dieser pauschalen Bezugnahme auf die zahlreichen Ge- und Verbote des § 9 5. BayIfSMV wird auch das dort in Absatz 2 Nr. 1 als Zulässigkeitsvoraussetzung für den Trainingsbetrieb an der frischen Luft oder in Reithallen normierte Gebot „Einhaltung der Beschränkungen nach § 1 Abs. 1“ erfasst, auf das wiederum die weiteren Zulässigkeitsregelungen in Absatz 5 Satz 1 (Wettkampfbetrieb an der frischen Luft), Absatz 6 Satz 1 (Trainingsbetrieb in geschlossenen Räumen), Absatz 7 (Tanzsport) und Absatz 9 Satz 1 (Freibäder) unmittelbar oder mittelbar verweisen.
Nach diesem als Bußgeldtatbestand in Bezug genommenen § 1 Abs. 1 5. BayIfSMV wird jeder angehalten, die physischen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (Satz 1); wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten (Satz 2). Es sei bereits zweifelhaft, ob dieses allgemeine Abstandsgebot, das selbst nicht bußgeldbewehrt sei, überhaupt eine zwingende und gegebenenfalls durchsetzbare Regelungswirkung entfalten soll oder lediglich als programmatischer Appell im Sinn einer Präambel zu verstehen sei. Auch wenn § 1 Abs. 1 5. BayIfSMV für sich betrachtet nicht offensichtlich verfassungsrechtlich zu beanstanden sei, so seien für einen Bußgeldtatbestand jedenfalls die Formulierungen „angehalten“, „absolut nötiges Minimum“ und „wo immer möglich“ bei einer Gesamtschau und unter Berücksichtigung des von § 9 5. BayIfSMV umfassten Regelungsbereichs offenkundig zu unbestimmt, um die betroffenen Betreiber und Nutzer von Sporteinrichtungen in ausreichender Weise in die Lage zu versetzen, das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion vorauszusehen.
Im Hinblick auf alle übrigen Vorschriften der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung liegen nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs keine Gründe vor, die im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen und eine vollständige oder teilweise Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelungen rechtfertigen. Es sei jedenfalls nicht offensichtlich, dass der Verordnungsgeber seine verfassungsrechtliche Pflicht zur strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei Fortschreibung der – immer noch erheblichen – Grundrechtseingriffe verletzt habe.
Die von den Antragstellern erhobenen Grundrechtsrügen gegen die im Vergleich zur Vorgängerverordnung neuen oder geänderten Bestimmungen griffen nicht offensichtlich durch. Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen weiterhin die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Die fortgeschriebenen und inzwischen zunehmend weiter gelockerten Grundrechtsbeschränkungen müssten trotz ihrer andauernden erheblich nachteiligen Folgen insbesondere persönlicher, wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Art gegenüber der fortbestehenden Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei einer Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten.
Diese Folgenabwägung gelte insbesondere auch mit Blick auf die Beschränkungen der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV) durch § 7 5. BayIfSMV. Diese Verordnungsbestimmung normiere zwar ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für öffentliche Versammlungen, welche die in Satz 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, insbesondere also mehr als 50 Teilnehmer haben. Das Ausmaß der grundrechtlichen Beeinträchtigung werde aber dadurch erheblich gemildert, dass nach Satz 2 i.V.m. § 5 Satz 2 5. BayIfSMV auf Antrag Ausnahmegenehmigungen erteilt werden könnten, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar sei.