Keine Außervollzugsetzung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung

02. Februar 2021 -

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat am 01.02.2021 zum Aktenzeichen Vf. 98-VII-20 sich bereits in Entscheidungen vom 17. Dezember 2020 (Vf. 110-VII-20), vom 30. Dezember 2020 (Vf. 96-VII-20) und vom 29. Januar 2021 (Vf. 96-VII-20) mit Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz gegen frühere Fassungen der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV) vom 15. Dezember 2020 (BayMBl 737, BayRS 2126-1-15-G) befasst. Am 1. Februar 2021 hat er es abgelehnt, diese Verordnung oder einzelne ihrer Vorschriften in der aktuellen Fassung durch einstweilige Anordnung außer Vollzug zu setzen.

Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 02.02.2021 ergibt sich:

Die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassene Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthält Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der COVID-19-Erkrankung. Dazu gehören in der aktuellen Fassung u. a. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die Maskenpflicht, das Verbot von Veranstaltungen und Feiern, die Beschränkung der Sportausübung, die Schließung von Ladengeschäften, die Untersagung des Betriebs gastronomischer Einrichtungen, von Übernachtungsangeboten und des Betriebs von Kultureinrichtungen sowie die Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen.

Die Antragsteller haben Popularklage erhoben, weil sie der Auffassung sind, die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung sei verfassungswidrig. Sie machen insbesondere geltend, der Sieben-Tage-Inzidenzwert, auf den der Verordnungsgeber die Grundrechtseingriffe im Wesentlichen stütze, sei unzutreffend, weil die zugrunde liegenden PCR-Tests nicht aussagekräftig seien. Es drohe auch keine Überlastung des Gesundheitssystems. Die in der Verordnung geregelten Schutzmaßnahmen seien zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie offenkundig weder geeignet noch erforderlich noch verhältnismäßig im engeren Sinn. Die von der Pandemie ausgehenden Gefahren würden überschätzt. Mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wollen sie erreichen, dass die Verordnung in weiten Teilen sofort außer Vollzug gesetzt wird.

Der Verfassungsgerichtshof hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen überschlägigen Prüfung ist nicht davon auszugehen, dass die Popularklage in der Hauptsache offensichtlich erfolgreich sein wird.

Es lässt sich nicht feststellen, dass der Verordnungsgeber offensichtlich die bundesrechtlich durch das Infektionsschutzgesetz eröffneten Spielräume überschritten oder unter Verletzung von Grundrechten der Bayerischen Verfassung ausgefüllt haben könnte. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass er seine verfassungsrechtliche Pflicht zur strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei Fortschreibung und bereichsweisen Verschärfung der – teilweise schwerwiegenden – Grundrechtseingriffe verletzt hat.

Bei Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verhinderung der Verbreitung der Krankheit COVID-19 ist zu berücksichtigen, dass der Staat wegen seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit zum Handeln grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung wurde vor dem Hintergrund einer besorgniserregenden Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland und im Freistaat Bayern seit Oktober 2020 erlassen. Soweit – nach einem Anstieg des Infektionsgeschehens Anfang Januar 2021 – seit der dritten Kalenderwoche 2021 ein Rückgang der Fallzahlen zu beobachten ist, ergibt sich hieraus derzeit keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Normgebers, eine im Ergebnis abweichende Neubewertung der Gefährdungslage vorzunehmen und die aktuell bestehenden Maßnahmen zu beenden oder zu lockern.

Die von den Antragstellern gegen die Bewertung der Gefahrenlage erhobenen Einwendungen greifen nicht durch. Es mag Stimmen geben, die die Eignung der Inzidenzzahlen zur Bewertung des Infektionsgeschehens, die Zuverlässigkeit von PCR-Tests sowie eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems verneinen, die Gefährlichkeit des Virus SARS-CoV-2 infrage stellen und die ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung – entgegen den Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts – als wirkungslos ansehen. Das rechtfertigt jedoch nicht den Vorwurf eines Verfassungsverstoßes des Normgebers. Es ist gerade dessen Aufgabe, die in der öffentlichen Diskussion vertretenen − teils kontroversen − Auffassungen im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu gewichten und eine Entscheidung zu treffen. Die Ansicht, dass der Normgeber erst tätig werden darf, wenn die Tatsachengrundlage für eine beabsichtigte Regelung in der Wissenschaft übereinstimmend als gesichert bewertet wird, entspricht nicht den Vorgaben der Verfassung.

Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Auch wenn die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung mit den aktuell geltenden Regelungen gegenüber früheren Verordnungen teilweise erhebliche Verschärfungen enthält, müssen die Belange der von den Vorschriften Betroffenen gegenüber der fortbestehenden Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einzelner oder aller Verordnungsbestimmungen würde die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts beeinträchtigen.