Der Bayerische Verfassungsgerichtshof in München hat es mit Beschluss vom 30.12.2020 zum Aktenzeichen Vf. 96-VII-20 abgelehnt, die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV) vom 15.12.2020 durch einstweilige Anordnung außer Vollzug zu setzen.
Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 30.12.2020 ergibt sich:
Die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassene Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayMBl 737, BayRS 2126-1-15-G) enthält Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Covid-19-Erkrankung. Dazu gehören u.a. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die Maskenpflicht, Auflagen für Gottesdienste, Beschränkungen bzw. die Untersagung von Versammlungen, die Beschränkung der Sportausübung, die Schließung von Ladengeschäften, die Untersagung des Betriebs gastronomischer Einrichtungen, von Übernachtungsangeboten und des Betriebs von Kultureinrichtungen sowie die Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen. Die Antragstellerinnen haben Popularklage erhoben, weil sie der Auffassung sind, die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung sei sowohl formal als auch materiell verfassungswidrig und ihre Anwendung mit schweren Nachteilen aufgrund rechtswidriger Grundrechtseingriffe verbunden. Zugleich wollen sie mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erreichen, dass die Verordnung sofort außer Vollzug gesetzt wird.
Der VerfGH München hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes kann bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen überschlägigen Prüfung weder von offensichtlichen Erfolgsaussichten noch von einer offensichtlichen Aussichtslosigkeit des die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung betreffenden Hauptantrags im Popularklageverfahren ausgegangen werden. Es sei weder offensichtlich, dass die vom Verordnungsgeber herangezogenen Rechtsgrundlagen (§ 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 des Bundesinfektionsschutzgesetzes – IfSG) ihrerseits verfassungswidrig wären, noch dass die Ermächtigungsgrundlage im Hinblick auf ihre Reichweite die angegriffenen Bestimmungen nicht trüge. Der Einwand der Antragstellerinnen, die Voraussetzungen für den Erlass von Schutzmaßnahmen seien schon deshalb nicht erfüllt, weil weder eine epidemische Lage von nationaler Tragweite noch belastbare Erkenntnisse über die tatsächliche Zahl der Erkrankungen an Covid-19 vorlägen, erscheint fernliegend. Angesichts der bei Erlass der angegriffenen Regelungen vorhandenen gesicherten Erkenntnisse über durch SARS-CoV-2 verursachte Erkrankungen und Todesfälle war es jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft, dass der Normgeber ein Infektionsgeschehen als gegeben erachtete, das Schutzmaßnahmen nach §§ 28, 28 a IfSG erforderlich macht. Ebenso wenig sei festzustellen, dass die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnah-menverordnung offensichtlich Freiheitsgrundrechte der Bayerischen Verfassung verletzt.
Es stehe außer Frage, dass Vorschriften der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – zum Teil ganz erheblich – in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten der Bayerischen Verfassung eingreifen. Das mache die Maßnahmen aber nicht von vornherein verfassungswidrig. Für eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sprächen angesichts der Gefahren, die ein ungehindertes Infektionsgeschehen für Leib und Leben der Menschen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems mit sich bringen könne, gute Gründe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Staat wegen seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit zum Handeln nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sei.
Das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 102 Abs. 1 BV) sei nicht einschlägig. Eine – auch bußgeldbewehrte – Pflicht, die Wohnung nicht ohne bestimmte Gründe zu verlassen, falle nicht in den Schutzbereich dieses Rechts.
Sonstige Freiheitsrechte, wie z. B. das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 BV), die Berufsfreiheit (Art 101 BV), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) und das Grundrecht auf Schutz der Familie (Art. 124 Abs. 1 BV), seien entweder nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze gewährleistet oder unterliegen verfassungsimmanenten Schranken aufgrund kollidierender Grundrechte Dritter und anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte. Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung könne nicht festgestellt werden, dass der Verordnungsgeber in unverhältnismäßiger Weise in Grundrechte eingegriffen bzw. einen unangemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern und der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit vorgenommen hat.
Hintergrund der mit der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung teilweise erheblich verschärften Bestimmungen sei eine besorgniserregende Entwicklung des Infektionsgeschehens. Es sei nicht erkennbar, dass der Normgeber, dem bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit grundrechtseinschränkender Maßnahmen eine Einschätzungsprärogative zukomme, mit den Schutzmaßnahmen offensichtlich gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen habe. Insbesondere lasse sich nicht feststellen, dass die dadurch beabsichtigte Unterbindung von Kontakten von vornherein ungeeignet wäre, die weitere Ausbreitung von Infektionen abzuschwächen und hierfür ein milderes, aber gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stünde. Die von den Antragstellerinnen gegen die Bewertung der Gefahrenlage erhobenen Einwendungen griffen nicht durch.
Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Bayerische Staatsregierung ihrer Pflicht, die getroffenen Maßnahmen fortlaufend auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen, nicht nachkäme. Der Einwand der Antragstellerinnen, der Normgeber evaluiere die erlassenen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen nicht, sondern ändere diese ständig, gehe fehl. Die häufigen Änderungen der Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen belegten gerade, dass der Normgeber die Wirksamkeit und Angemessenheit der Maßnahmen fortwährend überwache und die erlassenen Rechtsvorschriften an neue Erkenntnisse und die aktuelle Entwicklung des Infektionsgeschehens anpasse.
Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwögen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Auch wenn die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung gegenüber früheren Verordnungen teilweise erhebliche Verschärfungen enthalte, müssten die Belange der von den Vorschriften Betroffenen gegenüber der fortbestehenden und in jüngerer Zeit wieder erheblich gestiegenen Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einzelner Verordnungsbestimmungen würde die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts beeinträchtigen.