Keine Auslieferung zur Strafverfolgung an Russische Föderation

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08. Dezember 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1282/21 entschieden, dass die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen zum Zwecke der Strafverfolgung in die Russische Föderation verfassungswidrig ist.

Dem Beschwerdeführer wird in dem dem Auslieferungsverfahren zugrundeliegenden Haftbefehl des Stadtgerichts Jushno-Sachalinsk vom 3. Februar 2017 vorgeworfen, als alleiniger Anteilseigner einer Aktiengesellschaft (ein Fischverarbeitungsbetrieb) gemeinschaftlich handelnd mit zwei weiteren Personen zwischen März 2014 und Januar 2016 Abgaben und Steuerrückstände des Unternehmens nicht beglichen und die Pfändung von Unternehmenskonten vereitelt zu haben. Ferner soll er mit der Absicht der Gläubigerbenachteiligung Immobilienvermögen einer insolventen Gesellschaft an eine weitere Gesellschaft übertragen haben. Mit Schreiben vom 14. Juni 2017 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation um die Auslieferung des Beschwerdeführers. Dieser erklärte sich mit einer Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden und verzichtete nicht auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität.

Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 erklärte der Beschwerdeführer, dass er aus politischen Gründen verfolgt werde und die Tatvorwürfe inszeniert seien. Das Strafverfahren diene lediglich dazu, ihn aus seiner Eigentümerstellung zu verdrängen, um die Aktiengesellschaft zum Minimalpreis verstaatlichen zu können. Unter Mitwirkung des zuständigen Gouverneurs der Oblast Sachalin sei in einer Fernsehsendung mit dem russischen Präsidenten im April 2016 bewusst die Falschmeldung lanciert worden, die Aktiengesellschaft habe monatelang keine Löhne an die Arbeiter ausbezahlt, obwohl diese rechtzeitig gezahlt worden seien. Dieses Vorgehen habe wie beabsichtigt zur Folge gehabt, dass die Aktiengesellschaft nur wenige Tage später insolvent gewesen sei. Auch der Vorwurf der Steuerhinterziehung sei unberechtigt. Auf Nachfrage bei den Finanzbehörden, welche Steuerschulden im Januar 2016 bestanden haben sollen, sei im Juli 2020 mitgeteilt worden, dass diese nur in Höhe von umgerechnet etwa 1.000 Euro bestanden hätten und zwischenzeitlich vollständig beglichen worden seien. Zudem seien die ihm zur Last gelegten Delikte bereits verjährt, was auch die russische Justiz erkannt habe. Denn nachdem seiner angeblichen Mittäterin zunächst dieselben Delikte vorgeworfen und sie zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1.500 Euro verurteilt worden sei, habe das russische Berufungsgericht durch Urteil vom 21. Februar 2019 den Eintritt der Verjährung festgestellt. Es bestehe auch die Gefahr unmenschlicher beziehungsweise erniedrigender Haftbedingungen, da ihm kein individueller Haftraum von mindestens 3 m² zur Verfügung stehen werde und unangemessene Haftbedingungen in Russland ein offensichtlich wiederkehrendes sowie weit verbreitetes Problem seien.

Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation teilte mit Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 mit, dass zugesichert werde, dass das Auslieferungsersuchen nicht der politischen Verfolgung diene. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten seien nicht mit einer politischen Tätigkeit innerhalb Russlands verbunden, weshalb die Strafverfolgung nicht politisch motiviert sei. Ihm würden alle Verteidigungsmöglichkeiten gewährt, und er werde keiner Folter, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 und Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt sein. Er werde in einer Anstalt untergebracht sein, die den Anforderungen der EMRK und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entspreche. Die Beamten der deutschen Botschaft oder des Konsulats dürften ihn während der Haft besuchen.

In der Untersuchungshaft werde der individuelle Haftraum mindestens 4 m² und im allgemeinen Strafvollzug mindestens 3 m² betragen. In der Untersuchungshaftanstalt im Gebiet Sachalin bestehe keine Überbelegung. Der Beschwerdeführer werde in einem 17 m² großen Raum (ohne Einberechnung der Sanitärfläche) für vier Personen untergebracht. Dieser Raum sei mit zwei Doppelstockbetten, Spiegel, Regal, Tageslicht- und Nachtbeleuchtung, abgetrenntem Sanitärraum mit WC und Waschbecken, Heizkörper sowie einem Kalt- und Heißwasseranschluss, Trinkwasserbehälter und Rundfunkempfang ausgestattet. Mindestens einmal die Woche bestehe die Möglichkeit zu duschen und wöchentlich werde die Bettwäsche gewechselt. Im Strafvollzug werde der Beschwerdeführer im Gebiet Wladimirer in einer Haftanstalt im Bereich Nr. 11 untergebracht. Eine Überbelegung bestehe dort ebenfalls nicht. Im Bereich Nr. 11 seien derzeit 79 Personen auf einer Gesamtfläche (Hafträume, Zimmer für die Erziehungsarbeit, Räume zur Aufbewahrung von Gegenständen, Speisezimmer, Waschraum sowie Sanitärräume und sonstige Räumlichkeiten, in denen sich die Gefangenen tagsüber bewegen können) von 252,2 m² untergebracht. Es bestehe zwei Mal die Woche die Möglichkeit zu duschen und die Leib- und Bettwäsche werde wöchentlich gewechselt. Die Straftaten seien nicht verjährt. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte seien Fälle leichter Kriminalität, deren Verjährung durch die Fahndungsausschreibung mit Beschluss vom 19. April 2016 gehemmt worden sei.

Mit angegriffenem Beschluss vom 5. Juli 2021 erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf die Auslieferung für zulässig. Die Straftaten seien auslieferungsfähig. Die fiskalischen Straftaten seien sowohl nach deutschem als auch nach russischem Recht strafbar. Es liege weder eine politische Verfolgung vor, noch sei ein Verjährungseintritt gegeben, da dies die russischen Behörden mit den Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 zugesichert hätten. Auch ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK sei nicht ersichtlich. Mit Schreiben vom 24. August 2020 hätten die russischen Behörden zugesichert, dass der Beschwerdeführer menschenrechtskonform behandelt und untergebracht werde. Mit Schreiben vom 21. Mai 2021 sei konkret mitgeteilt worden, in welchen Haftanstalten er während der Quarantänezeit und Untersuchungshaft sowie im Falle seiner Verurteilung untergebracht werde. Daraus ergebe sich die „völkerrechtlich verbindliche, individuell auf den [Beschwerdeführer] bezogene Zusicherung, dass ihm während des gesamten Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens ein individueller Anteil von mindestens 3 m² im Haftraum garantiert“ werde.

Mit der am 21. Juli 2021 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG.

Die angegriffene Entscheidung vom 5. Juli 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, weil das Oberlandesgericht die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politisch verfolgt zu werden und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, nicht hinreichend aufgeklärt hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337>; 108, 129 <136>; 140, 317 <355 Rn. 83 f.>). Sie sind zudem − insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind − verpflichtet zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>).

Gemäß Art. 25 GG sind bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltungsbehörden und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten. Hieraus folgt insbesondere, dass die Behörden und Gerichte grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt. Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. BVerfGE 75, 1 <18 f.>).

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2015 – 2 BvR 1206/13 -, Rn. 19, und vom 30. November 2016 – 2 BvR 1519/14 -, Rn. 33). Dabei gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen, der behauptet, durch einen Akt öffentlicher Gewalt verletzt zu sein, oder im Auslieferungsverfahren im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 101, 106 <122 f.>; 103, 142 <156>; 113, 273 <310>; 129, 1 <20>).

Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfGK 9, 390 <395>; 9, 460 <463>; 13, 472 <476>; 13, 487 <493>; 17, 429 <430 f.>; 19, 157 <164>; 20, 107 <112>). Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz der betroffenen Person (vgl. BVerfGE 113, 273 <312>). Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren dient der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2019 – 2 BvR 517/19 -, Rn. 33, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 39; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. März 2021 – 2 BvR 408/21 -, Rn. 37).

Nicht nur im Rechtshilfeverkehr unter Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz, dass dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtshilfe in Strafsachen sowie des Völkerrechts Vertrauen entgegenzubringen ist (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>; 140, 317 <349 Rn. 68>). Auch im allgemeinen Auslieferungsverkehr hat der ersuchende Staat ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe. Von der Begehung von Rechtsverletzungen, die die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs zwangsläufig beeinträchtigen würden, wird ein ersuchender Staat schon deshalb regelmäßig Abstand nehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2019 – 2 BvR 517/19 -, Rn. 35, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 42).

Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen, etwa systemische Defizite im Zielstaat, erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Das ist der Fall, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Fall einer Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gemäß Art. 25 GG nicht eingehalten werden. Dafür müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die Mindeststandards nicht beachtet werden (vgl. BVerfGE 140, 317 <350 Rn. 71>; vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2019 – 2 BvR 517/19 -, Rn. 36, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 43).

Die vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebenen völkerrechtlich verbindlichen Zusicherungen sind grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377 f.>; stRspr). Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2019 – 2 BvR 828/19 -, Rn. 44, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45).

Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Sowohl die Überprüfung einer Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat (a) als auch die Prüfung der zu erwartenden Haftbedingungen (b) genügt den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht.

Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren im Allgemeinen und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat im Besonderen dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung des § 6 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) oder entsprechender auslieferungsvertraglicher Regelungen wie Art. 3 Nr. 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) durch die Oberlandesgerichte haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Selbst wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folgen sollte, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, Berücksichtigung finden (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 – 2 BvR 1381/17 -, Rn. 28, vom 22. Oktober 2019 – 2 BvR 1661/19 -, Rn. 39, vom 30. Oktober 2019 – 2 BvR 828/19 -, Rn. 40, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 40).

Soweit Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung im Zielstaat bestehen, sind die zuständigen Stellen in Auslieferungssachen verpflichtet, im Rahmen von § 6 Abs. 2 IRG oder einer entsprechenden auslieferungsvertraglichen Regelung (z.B. Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbk) eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Fall seiner Auslieferung politische Verfolgung droht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 – 2 BvR 66/96 -, Rn. 17, vom 9. April 2015 – 2 BvR 221/15 -, Rn. 12, vom 9. März 2016 – 2 BvR 348/16 -, Rn. 12, und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41). Dies folgt verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen, die insoweit dem Grundgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen, sowie einfachrechtlich aus § 6 Abs. 2 IRG beziehungsweise den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 – 2 BvR 1381/17 -, Rn. 29, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41). Die für die Zulässigkeitsentscheidung zuständigen Gerichte müssen bei entsprechenden Anhaltspunkten einer Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung der behaupteten Gefahr veranlassen und den Sachverhalt eigenständig würdigen. Soweit nach dieser Prüfung ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung grundsätzlich für unzulässig zu erklären (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 – 2 BvR 1381/17 -, Rn. 29, vom 22. Oktober 2019 – 2 BvR 1661/19 -, Rn. 42, vom 30. Oktober 2019 – 2 BvR 828/19 -, Rn. 41, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41).

Stellt sich im Rahmen dieser Prüfung etwa heraus, dass die tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat erheblich von dem zugesicherten Verhalten abweichen, ist dies geeignet, die Frage aufzuwerfen, ob das zugesicherte Verhalten überhaupt geleistet werden kann und die abgegebene Zusicherung belastbar ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juni 2019 – 2 BvR 1092/19 -, Rn. 13, vom 22. November 2019 – 2 BvR 517/19 -, Rn. 37, und vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45). Dies gilt auch, wenn Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat bestehen. Im Rahmen dessen muss das Gericht den auf die Gefahr politischer Verfolgung bezogenen Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2016 – 2 BvR 348/16 -, Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45).

Das Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung, die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein, aufzuklären und eigenständig zu prüfen, nicht nachgekommen. Es hat sich mit den konkreten Schilderungen des Beschwerdeführers, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bewusst unter Mitwirkung staatlicher Hoheitsträger inszeniert worden seien, nicht erkennbar auseinandergesetzt. Worauf das Gericht seine Überzeugung stützt, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung nicht der Gefahr einer politischen Verfolgung ausgesetzt sein wird, lässt sich der angegriffenen Entscheidung nicht entnehmen. Auch inwieweit die von den russischen Behörden nicht weiter ausgeführte Erklärung, dass die Strafverfolgung des Beschwerdeführers nicht politisch motiviert sei, belastbar sein soll, wird in dem angegriffenen Beschluss nicht dargelegt.

Bestehen konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im ersuchenden Staat, ist das mit dem Auslieferungsersuchen befasste Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. zu Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK und Art. 1 Abs. 1 GG BVerfGE 156, 182 <201 Rn. 44 ff. und 208 f. Rn. 59 f.>). Bei der vom Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt (vgl. BVerfGE 156, 182 <203 f. Rn. 48 f.>). Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen (vgl. EGMR <GK>, Muršić v. Croatia, Urteil vom 20. Oktober 2016, Nr. 7334/13, § 75 und § 114).

Gemessen hieran genügt die Überprüfung der Haftbedingungen im Zielstaat nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG. Eine gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Beschwerdeführers zu erheblichen systemischen Defiziten im russischen Strafvollzug ist nicht erkennbar erfolgt. Zudem hat das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung eine Gesamtwürdigung der Haftbedingungen versäumt. Trotz der Bedeutung des Raumfaktors ist das bloße Abstellen auf die individuelle Haftraumfläche für die erforderliche Gesamtwürdigung nicht ausreichend. Dabei hat sich das Oberlandesgericht auch nicht damit auseinandergesetzt, dass die russischen Behörden zwar für die Untersuchungshaftanstalt einzelne Haftbedingungen geschildert und erklärt haben, den Beschwerdeführer in einem (unter Ausschluss der Sanitärfläche) 17 m² großen Haftraum mit drei weiteren Personen unterzubringen und ihm damit mehr als 4 m² individuellen Haftraum zu gewähren. Hinsichtlich der Strafvollzugsanstalt haben die russischen Behörden demgegenüber mitgeteilt, dass er im Bereich Nr. 11 der Haftanstalt auf einer Gesamtfläche von 252,2 m² mit 79 weiteren Gefangenen untergebracht werden solle. Die Belegung und Größe des Haftraums, in dem er während des Strafvollzugs wahrscheinlich untergebracht werden soll, sowie die weiteren Haftbedingungen wurden nicht mitgeteilt. Allein die mitgeteilte Gesamtfläche aller Räume des Haftbereichs lässt bei einer Durchschnittsfläche von 3,19 m² pro Gefangenem abzüglich der (nicht bekannten) Flächen für den Sanitärbereich, die Flure und Aufenthaltsräume noch nicht erkennen, welcher persönliche Raum dem Beschwerdeführer in einem Gemeinschaftsraum in dieser Strafvollzugsanstalt zur Verfügung stehen soll beziehungsweise ob dieser unter 3 m², zwischen 3 und 4 m² oder über 4 m² liegt.

Auch hinsichtlich der Haftbedingungen hat es das Oberlandesgericht versäumt, die Belastbarkeit der Zusicherungen der russischen Behörden zu prüfen. Das nicht weiter begründete Abstellen auf das Vorliegen einer bindend und individuell auf den Beschwerdeführer erklärten Zusicherung der russischen Behörden ist insoweit nicht ausreichend. Eine eigenständige Gefahrenprognose lässt sich dem angegriffenen Beschluss nicht entnehmen.