Der Bundesgerichtshof hat am 30.04.2020 zum Aktenzeichen I ZR 228/15 entschieden, dass ein Buchbeitrag eines früheren Bundestagsabgeordneten über die strafrechtliche Bewertung von Sex mit Kindern aus den 80er Jahren in einem Internet-Nachrichtenportal komplett veröffentlicht werden durfte.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 44/2020 vom 30.04.2020 ergibt sich:
Der Kläger war in den Jahren 1994 bis 2016 Mitglied des Bundestags. Er ist Verfasser eines Manuskripts, in dem er sich gegen die radikale Forderung einer vollständigen Abschaffung des Sexualstrafrechts wandte, aber für eine teilweise Entkriminalisierung gewaltfreier sexueller Handlungen Erwachsener mit Kindern eintrat. Der Text erschien im Jahr 1988 als Beitrag in einem Buch. Im Mai 1988 beanstandete der Kläger gegenüber dem Herausgeber des Buchs, dieser habe ohne seine Zustimmung Änderungen am Text und an den Überschriften vorgenommen, und forderte ihn auf, dies bei der Auslieferung des Buchs kenntlich zu machen. In den Folgejahren wurde der Kläger mehrfach kritisch mit den Aussagen des Buchbeitrags konfrontiert. Er erklärte daraufhin wiederholt, sein Manuskript sei durch den Herausgeber im Sinn verfälscht worden, weil dieser die zentrale Aussage – die Abkehr von der seinerzeit verbreiteten Forderung nach Abschaffung des Sexualstrafrechts – wegredigiert habe. Spätestens seit dem Jahr 1993 distanzierte sich der Kläger vollständig vom Inhalt seines Aufsatzes.
Im Jahr 2013 wurde in einem Archiv das Originalmanuskript des Klägers aufgefunden und ihm wenige Tage vor der Bundestagswahl, für die er als Abgeordneter kandidierte, zur Verfügung gestellt. Der Kläger übermittelte das Manuskript an mehrere Zeitungsredaktionen als Beleg dafür, dass es seinerzeit für den Buchbeitrag verändert worden sei. Einer Veröffentlichung der Texte durch die Redaktionen stimmte er nicht zu. Stattdessen stellte er das Manuskript und den Buchbeitrag mit dem Hinweis auf seiner Internetseite ein, er distanziere sich von dem Beitrag. Mit einer Verlinkung seiner Internetseite durch die Presse war er einverstanden. Vor der Bundestagswahl veröffentlichte die Beklagte in ihrem Internetportal einen Pressebericht, in dem die Autorin die Ansicht vertrat, der Kläger habe die Öffentlichkeit jahrelang hinters Licht geführt. Die Originaldokumente belegten, dass das Manuskript nahezu identisch mit dem Buchbeitrag und die zentrale Aussage des Klägers keineswegs im Sinn verfälscht worden sei. Die Internetnutzer konnten das Manuskript und den Buchbeitrag über einen elektronischen Verweis (Link) herunterladen. Die Internetseite des Klägers war nicht verlinkt. Der Kläger sieht in der Veröffentlichung der Texte eine Verletzung seines Urheberrechts. Er hat die Beklagte auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Das Kammergericht hat angenommen, die Veröffentlichung der urheberrechtlich geschützten Texte des Klägers ohne seine Zustimmung sei auch unter Berücksichtigung der Meinungs- und Pressefreiheit der Beklagten weder unter dem Gesichtspunkt der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) noch durch das gesetzliche Zitatrecht (§ 51 UrhG) gerechtfertigt. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Der BGH hat das Verfahren mit Beschluss vom 27.07.2017 ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft vorgelegt (I ZR 228/15 – GRUR 2017, 1027 „Reformistischer Aufbruch I“). Diese Fragen hat der EuGH mit Urteil vom 29.07.2019 (C-516/17 – GRUR 2019, 940 „Spiegel Online“) beantwortet. Der BGH hat daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt.
Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Nach Auffassung des BGH hat die Beklagte durch die Bereitstellung des Manuskripts und des Buchbeitrags in ihrem Internetportal das Urheberrecht des Klägers nicht widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greife vielmehr die Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) ein.
Eine Berichterstattung über ein Tagesereignis im Sinne dieser Bestimmung liege vor. Das Berufungsgericht habe bei seiner abweichenden Annahme nicht hinreichend berücksichtigt, dass es in dem in Rede stehenden Artikel im Schwerpunkt um die aktuelle Konfrontation des Klägers mit seinem bei Recherchen wiedergefundenen Manuskript und seine Reaktion darauf ging. Dies seien Ereignisse, die bei der Einstellung des Artikels ins Internetportal der Beklagten aktuell und im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des erneut als Bundestagsabgeordneter kandidierenden Klägers von gegenwärtigem öffentlichem Interesse waren. Dass der Artikel über dieses im Vordergrund stehende Ereignis hinausgehend die bereits über Jahre andauernde Vorgeschichte und die Hintergründe zur Position des Klägers mitteilte, stehe der Annahme einer Berichterstattung über Tagesereignisse nicht entgegen.
Die Berichterstattung habe zudem nicht den durch den Zweck gebotenen Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG diene und die bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sei, dürfe die fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die Berichterstattung über Tagesereignisse verhältnismäßig sei, d.h. mit Blick auf den Zweck der Schutzschranke, der Achtung der Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit und auf Pressefreiheit, den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspreche.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG komme es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich seien, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht sei (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert sei (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greife die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 Rn. 71 – GRUR 2020, 74 „Recht auf Vergessen I“). Da nach der Rechtsprechung des EuGH Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG dahin auszulegen sei, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstelle, sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach anhand des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes vorzunehmen.
Im Streitfall seien nach diesen Maßstäben bei der Auslegung und Anwendung der Verwertungsrechte und der Schrankenregelungen auf der Seite des Klägers das ihm als Urheber zustehende, durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte ausschließliche Recht der öffentlichen Zugänglichmachung seiner Werke zu berücksichtigen. Außerdem sei das von seinem Urheberpersönlichkeitsrecht geschützte Interesse betroffen, eine öffentliche Zugänglichmachung seines Werks nur mit dem gleichzeitigen Hinweis auf seine gewandelte politische Überzeugung zu gestatten. Für die Beklagte streiten dagegen die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. Die Abwägung dieser im Streitfall betroffenen Grundrechte führe zu einem Vorrang der Meinungs- und Pressefreiheit. Das Berufungsgericht habe mit Recht angenommen, dass der Beklagten im Rahmen ihrer grundrechtlich gewährleisteten Meinungs- und Pressefreiheit die Aufgabe zukam, sich mit den öffentlichen Behauptungen des Klägers kritisch auseinanderzusetzen und es der Öffentlichkeit durch die Bereitstellung des Manuskripts und des Buchbeitrags zu ermöglichen, sich ein eigenes Bild von der angeblichen inhaltlichen Verfälschung des Aufsatzes und damit von der vermeintlichen Unaufrichtigkeit des Klägers zu machen. Dabei sei das Berufungsgericht zutreffend von einem hohen Stellenwert des von der Beklagten wahrgenommenen Informationsinteresses der Öffentlichkeit ausgegangen. Im Hinblick auf die Interessen des Klägers sei zu berücksichtigen, dass sein durch Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes ausschließliche Recht zur öffentlichen Zugänglichmachung des Manuskripts sowie des Buchbeitrags nur unwesentlich betroffen sei, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit einer weiteren wirtschaftlichen Verwertung des Aufsatzes nicht zu rechnen sei. Sein dem Urheberpersönlichkeitsrecht unterfallendes Interesse, zu bestimmen, ob und wie sein Werk veröffentlicht werde, erlange im Rahmen der Grundrechtsabwägung kein entscheidendes Gewicht. Die Beklagte habe ihren Lesern in dem mit der Klage angegriffenen Bericht die im Lauf der Jahre gewandelte Meinung des Klägers zur Strafwürdigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger nicht verschwiegen, sondern ebenfalls zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht. Sie habe der Öffentlichkeit damit den in Rede stehende Text nicht ohne einen distanzierenden, die geänderte geistig-persönliche Beziehung des Klägers zu seinem Werk verdeutlichenden Hinweis zur Verfügung gestellt und seinem urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interesse hinreichend Rechnung getragen.