Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 21.12.2022 zum Aktenzeichen AnwZ (Brfg) 16/22 entschieden, dass der Abwickler einer Rechtsanwaltskanzlei die unordentlich organisiert war, wesentlich mehr Geld bekommt
Der Kläger wurde mit Verfügung der Beklagten vom 10. April 2019 zum Abwickler der Kanzlei des am 17. März 2019 überraschend verstorbenen Rechtsanwalts G. (im Folgenden: Rechtsanwalt G.) bestimmt. Mit Verfügung vom 8. Oktober 2019 wurde die Bestellung zum Abwickler bis zum 10. April 2020 verlängert. Eine Einigung über die Höhe der Abwicklervergütung mit dem Erben von Rechtsanwalt G. erfolgte bisher nicht. Der Beigeladene ist der Insolvenzverwalter über den Nachlass von Rechtsanwalt G.
Mit Bescheid vom 16. Dezember 2020 setzte die Beklagte die Vergütung auf 30.000 € brutto fest. Auf die Klage des Klägers hat der Anwaltsgerichtshof den Bescheid dahingehend abgeändert, dass die Vergütung auf 151.475,10 € brutto festgesetzt wird.
Soweit die Beklagte vorbringt, der Anwaltsgerichtshof hätte sowohl den Kläger als auch die Beklagte zur Vorlage von Unterlagen auffordern und die Beiziehung der Akten anordnen müssen, um den Sachverhalt in Bezug auf die Tätigkeit des Klägers und die Zustände in der abzuwickelnden Kanzlei umfassend aufzuklären, sowie Ermittlungen zum regionalen Bruttoeinkommen durchführen müssen, begründet dies keinen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz gemäß § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO.
Danach hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und ist dabei grundsätzlich weder an das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten noch an ihre Beweisanträge gebunden (§ 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Amtsermittlungsgrundsatz wird jedoch wie sich aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO ergibt durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten in der Weise begrenzt, dass die Tatsachengerichte nicht in Ermittlungen einzutreten brauchen, die durch das Vorbringen der Beteiligten nicht veranlasst sind. Insofern besteht auch im Verwaltungsprozess eine Prozessförderungspflicht der Beteiligten, wonach jeder Beteiligte grundsätzlich den Prozessstoff, insbesondere die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, umfassend vorzutragen hat
Die Rüge der Verletzung des verwaltungsprozessualen Untersuchungsgrundsatzes erfordert zum einen eine substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltene Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Zum anderen muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewiesen worden ist oder dass sich dem erstinstanzlichen Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen.
Aufgrund des Vorbringens der Beteiligten hatte der Anwaltsgerichtshof keinen Anlass, Ermittlungen zur Tätigkeit des Klägers durchzuführen.
Der Anwaltsgerichtshof hat ausgeführt, dass er angesichts der detaillierten und nachvollziehbaren klägerischen Angaben zur Aktenführung, Mandatsführung und Mandatsabwicklung der abzuwickelnden Kanzlei, denen die Beklagte nicht substantiiert entgegengetreten sei, nicht die Auffassung der Beklagten teile, die abzuwickelnde Kanzlei sei ordentlich organisiert gewesen. Dabei ging es insbesondere darum, dass Rechtsanwalt G. bei ihm eingegangene Fremdgelder häufig nicht unverzüglich an die Berechtigten ausgekehrt oder auf einem Anderkonto verwahrt habe, sondern diese Zahlungseingänge für Ausgaben im Zusammenhang mit dem Kanzleibetrieb oder für private Ausgaben verwendet haben soll und dass er bei fast jedem neuen Mandat alle möglicherweise im Mandat entstehenden Gebühren häufig unter Ansetzung eines zu hohen Gegenstandswerts als Vorschuss abgerechnet haben soll. Befreundeten Mandanten habe er hingegen nicht selten zugesagt, keinerlei Kosten zu berechnen. Derartige Absprachen bezüglich eines Vergütungsverzichts seien niemals dokumentiert worden, andere Absprachen zur Vergütung nur selten. In zahlreichen Fällen soll nicht vollständig oder überhaupt nicht über die einzelnen Schritte der Sachbearbeitung informiert worden sein, und in den Akten sollen sich häufig keine Angaben über die Kommunikation zwischen ihm und seinen Mandanten befunden haben. In zahlreichen Mandaten habe der Inhalt des Mandats und der Absprachen erst im Rahmen der Abwicklung erarbeitet werden müssen. Zudem hat der Kläger was der Anwaltsgerichtshof ausdrücklich aufgeführt hat die Beklagte mit Schreiben vom 11. Juli 2019 über diese problematische Gesamtsituation der abzuwickelnden Kanzlei informiert.
Die Beklagte hat vor dem Anwaltsgerichtshof zum Beleg ihrer Auffassung, dass eine Kanzlei abzuwickeln gewesen sei, die ordentlich organisiert und geführt gewesen sei, lediglich auf die Kanzleistruktur mit einer angestellten Anwältin und mit Personal, das von der Kanzlei des Klägers übernommen worden sei, hingewiesen.
Damit ist die Beklagte auf den Vortrag des Klägers nicht eingegangen. Denn der Umstand, dass in einer Kanzlei eine Anwältin angestellt ist und noch anderes Personal beschäftigt wird, kann den vom Kläger geschilderten Missständen im Ansatz nicht entgegenwirken. Denn wenn Rechtsanwalt G. wesentliche Absprachen nicht oder nicht zureichend in den Akten dokumentiert und auch die Korrespondenz mit den Mandanten nur unzureichend geführt hat, nützt vorhandenes Personal nichts. Denn dann gibt es gerade kein Datenmaterial, auf das dieses Personal zugreifen könnte, um den Bearbeitungsstand eines Vorgangs so darzustellen, dass er ohne weiteres erfasst werden kann. Bei dem Vorbringen des Klägers handelte es sich zudem nicht um erstmalig im Gerichtsverfahren erfolgten Vortrag. Vielmehr hätte die Beklagte schon nach dem Schreiben vom 11. Juli 2019 Anlass gehabt, bei Zweifeln an den Angaben des Klägers diese näher zu überprüfen. Denn dann hätte sich auch die Frage gestellt, ob der Kläger weiterhin als Abwickler eingesetzt werden sollte.
Unter diesen Gesichtspunkten durfte der Anwaltsgerichtshof davon ausgehen, dass es sich bei dem Vorbringen der Beklagten zur geordneten Kanzleistruktur um eine bloße Behauptung der Beklagten ohne tatsächliche Grundlage handelte, der nicht weiter nachzugehen war, und dass die Beklagte die detaillierte Schilderung der Gesamtsituation durch den Kläger damit nicht in Abrede gestellt hatte.
Da der Anwaltsgerichtshof von einer ungeordneten Kanzleistruktur und einer mängelbehafteten und undurchsichtigen Organisation ausgehen durfte, durfte er diese Umstände auch bei der Beurteilung heranziehen, ob der vom Kläger angeführte Zeitaufwand als angemessen anzusehen war.
Der Anwaltsgerichtshof hat bei dieser Beurteilung zudem darauf Bezug genommen, dass nach dem „Abwicklerlexikon“ der Bundesrechtsanwaltskammer der Abwickler einen weit gefassten Pflichtenkatalog abzuarbeiten habe. So sei er den Mandanten gegenüber zur Erfüllung sämtlicher Anwaltspflichten aus dem Mandatsverhältnis verpflichtet, wie sie für den früheren Rechtsanwalt begründet gewesen seien. Er müsse für ordnungsgemäße Rechtsberatung und Vertretung sorgen. In dem „Abwicklerlexikon“ ist zudem unter „Abwicklung“ ausgeführt, dass die Mandanten ein berechtigtes Interesse daran hätten, dass ihre Rechtsangelegenheiten ohne Zeitverlust und Mehrkosten zu Ende geführt würden. Dies kann bedeuten, dass der Abwickler zum Beispiel Gerichtstermine wahrzunehmen hat, auf die er sich durch Aktenstudium und auch durch Besprechung mit dem Mandanten vorbereiten muss. Von daher spricht die Auflistung derartiger Tätigkeiten durch den Kläger nicht dafür, dass dabei der Bereich der „Abwicklung“ verlassen worden wäre. Auch insoweit hat die Beklagte nicht dargelegt, woraus sich ableiten soll, dass der Kläger diese Tätigkeiten für die eigene Kanzlei und nicht als Abwickler erbracht hat.
Dass dem Anwaltsgerichtshof bei der Einschätzung, ein Zeitaufwand von 1 Stunde 45 Minuten pro Verfahren und ein Gesamtaufwand von 1.731 Stunden für die Abwicklung der Mandate sei schlüssig und plausibel, ein Rechtsfehler unterlaufen wäre, ist daher nicht dargetan. Auch insoweit bestand dann aber kein Anlass, weitere Ermittlungen anzustellen.
Der Anwaltsgerichtshof musste auch keine weiteren Ermittlungen zum anzusetzenden Bruttoeinkommen durchführen. Nach der Rechtsprechung des Senats sind bei der Vergütungsfestsetzung zwar regionale Unterschiede in den einzelnen Bezirken zu berücksichtigen. Voraussetzung hierfür ist indes, dass entsprechendes Datenmaterial vorliegt. Aufwändige eigene Erhebungen müssen anlässlich der Festsetzung einer Vergütung gemäß § 53 Abs. 10 Satz 5 BRAO nicht durchgeführt werden.
Der Anwaltsgerichtshof hat eine weitergehende „Regionalisierung“ des durchschnittlichen Bruttoeinkommens nicht vorgenommen, weil die Beklagte keine aussagekräftige Stichprobe und valide Daten für den Bezirk vorgelegt habe. Er hat also gerade darauf abgestellt, dass kein entsprechendes Datenmaterial dafür vorliegt. In der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 17. September 2021 vorgelegten STAR Statistik wird als Jahresgehalt von in Kanzleien angestellten VollzeitAnwälten im Jahr 2018 für die „Kammer B. “ ein Durchschnitt von 54.000 € angegeben, wobei dieser Wert auf zehn Fällen beruht. Für frei mitarbeitende Rechtsanwälte wird für die „Kammer B. “ vermerkt, dass keine Daten bzw. Fälle vorhanden seien. Das durchschnittliche Gehalt von in Kanzleien angestellten VollzeitAnwälten für „andere WestKammern“ ist mit 78.000 € angegeben, was auf 305 Fällen beruht. Im Sitzungsprotokoll vom 21. Februar 2022 ist ausgeführt, dass die Beklagte auf Frage des Gerichts erklärt habe, dass sie keinen Zugriff auf die Rohdaten der STARStatistik habe und deswegen auch nicht wisse, wie sich die Gehälter auf die zehn teilnehmenden Befragten verteilten. Sie könne versuchen, diese Daten bei der Bundesrechtsanwaltskammer zu erhalten. Ob im Landgerichtsbezirk Ba. gegebenenfalls höhere Gehälter bezahlt würden, sei nicht bekannt. Mit Schriftsatz vom 23. März 2022 hat die Beklagte angegeben, dass sie die von ihr herangezogene STARUmfrage als zutreffende, als zulässiges Kriterium heranzuziehende Grundlage für die Bemessung der Pauschale ansehe. Vorsorglich hat sie ein Sachverständigengutachten dafür angeboten, dass ein im Landgerichtsbezirk Ba. angestellter Anwalt durchschnittlich ein Bruttojahresgehalt in einer Spanne von 54.000 € bis 60.000 € beziehe.
Die Beklagte zeigt nicht auf, warum der Anwaltsgerichtshof sich vor diesem Hintergrund zu weiteren Ermittlungen hätte veranlasst sehen müssen. Zum einen gelang es ihr mit dem Schriftsatz vom 23. März 2022 nicht, nähere Angaben zum Datenmaterial zu machen. Dass sie auf das Gehalt der Rechtsanwältin J. Bezug nimmt, ändert nichts an dem vom Anwaltsgerichtshof angesprochenen Problem, dass zu den zehn Fällen, auf denen der Wert für die „Kammer B. “ beruht, keine näheren Angaben verfügbar sind und dieser Wert für den Anwaltsgerichtshof daher schwer einzuschätzen war. Zum anderen verwies sie auf ein Sachverständigengutachten, das nach der Ausgangslage hier aber eine aufwändige Erhebung dargestellt hätte, die weder von der Beklagten noch vom Anwaltsgerichtshof zu verlangen war.
Dass der Anwaltsgerichtshof bei der Bemessung der Vergütung vom Durchschnittsgehalt eines in Vollzeit in den westdeutschen Bundesländern angestellten Rechtsanwalts ausgegangen ist, begegnet vorliegend keinen Bedenken. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, es sei auf das Gehalt abzustellen, das der Rechtsanwältin J. vom verstorbenen Rechtsanwalt G. und dann vom Kläger gezahlt worden ist, übersieht sie, dass Ausgangspunkt für die Bemessung der Vergütung des Abwicklers die durch ihn ausgeübte Abwicklungsstätigkeit und die in seiner Person gegebene Qualifikation ist. Abzustellen ist somit zunächst auf die Person des Klägers. Der Anwaltsgerichtshof konnte daher das Bruttogehalt bezogen auf den Kläger ansetzen und dann im Rahmen der Abwägung berücksichtigen, dass dieser nur in einem bestimmten Umfang selbst tätig geworden ist und ansonsten bei ihm angestellte Rechtsanwälte eingesetzt hat.
Soweit die Beklagte rügt, der Anwaltsgerichtshof habe zwar angeführt, dass die monatliche Arbeitsbelastung um 17% unter der monatlichen Durchschnittsarbeitszeit gelegen habe und die Abwicklertätigkeit teilweise im Eigeninteresse des Abwicklers geschehen sei, dies jedoch bei der Beurteilung der Angemessenheit nicht berücksichtigt habe, trifft dies nicht zu. Der Anwaltsgerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass diese Umstände bei der Festsetzung der monatlichen Pauschale einzustellen seien. Nach Anführung aller einzustellenden Umstände ist der Anwaltsgerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass „deshalb insgesamt“ eine Erhöhung der Monatspauschale von 6.500 € um 50% angemessen und ausreichend sei. Der Anwaltsgerichtshof hat somit lediglich darauf verzichtet, für jeden Umstand einen eigenen Zu bzw. Abschlag anzusetzen und einzelne Zwischenrechnungen durchzuführen. Er hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nach Berücksichtigung aller Umstände im Endergebnis eine Erhöhung von 50% vorzunehmen ist.