Haftbedingungen in Rumänien verfassungswidrig – keine Überstellung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 27. Januar 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 1214/21 entschieden, dass die Entscheidungen zur Überstellung eines rumänischen Staatsangehörigen zur Strafvollstreckung in Rumänien verfassungswidrig ist.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Überstellung des Beschwerdeführers, eines rumänischen Staatsangehörigen, zur Strafvollstreckung nach Rumänien.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit dies zur

Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach der Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.

Hat das Gericht im ersten Prüfungsschritt systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt, so ist es im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Überstellung an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen.

Bei der von dem mitgliedstaatlichen Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen.

In Anbetracht der Bedeutung des Raumfaktors bei der Gesamtbeurteilung der Haftbedingungen begründet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m² liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK. Diese starke Vermutung kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich kumulativ erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m² handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind. Verfügt ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m² und 4 m² beträgt, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof beziehungsweise zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Bei mehr als 4 m² persönlichem Raum in einer Gemeinschaftszelle bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant.

Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist.

Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel belegen können. Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Überstellung aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: RbEuHb) zu beachtenden Fristen den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln.

Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Überstellung so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Überstellungsverfahren zu beenden ist.

Art. 15 Abs. 2 RbEuHb verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll.

Hat die ausstellende Justizbehörde – nachdem erforderlichenfalls eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 RbEuHb um Unterstützung ersucht wurde – die Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Allerdings darf das Gericht nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh unterworfen zu werden.

Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Saarländische Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 GRCh, auf der zweiten Prüfungsstufe im konkreten Fall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.

Die rumänischen Behörden haben mit Schreiben vom 12. März 2021, 5. Mai 2021 und 2. Juni 2021 Informationen zu den Haftbedingungen erteilt, die den Beschwerdeführer im Falle seiner Überstellung erwarten sollen. Ihm wurde unabhängig von einer konkreten Haftanstalt ein persönlicher Raum von mindestens 3 m² zugesichert. Das Oberlandesgericht hat in der angegriffenen Entscheidung vom 16. Juni 2021 nicht berücksichtigt, dass ihm eigenständige Prüfungspflichten auch hinsichtlich der erteilten Informationen oblagen.

So kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh auch dann vorliegen, wenn ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle zwar über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m² und 4 m² liegt, verfügt, zu diesem Raum aber weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten. Den Schreiben lässt sich insbesondere für die vorgesehene Quarantänezeit von 21 Tagen in der Haftanstalt Rahova keine nähere Beschreibung der dortigen Haftbedingungen entnehmen. Die Prüfung ist jedoch für alle Haftanstalten durchzuführen, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich konkret inhaftiert werden soll, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken. Ob sich der Beschwerdeführer beispielsweise während der dreiwöchigen Quarantänezeit, die nach diesen Maßstäben nicht als kurzer Zeitraum angesehen werden kann, auf alle mitgeteilten Konditionen des geschlossenen Vollzugs in gleichem Maße wird berufen können, wie sie für die für den geschlossenen Vollzug vorgesehene Haftanstalt Margineni mitgeteilt wurden, bleibt unklar und hätte folglich vom Oberlandesgericht weiter aufgeklärt werden müssen. Eine für eine umfassende Gesamtwürdigung genügende Tatsachengrundlage ist damit nicht gegeben.

Zudem erschließt sich nicht ohne Weiteres, weshalb das Oberlandesgericht, das von systemischen oder allgemeinen Mängeln der Haftbedingungen in Rumänien ausgeht, die „beengten Verhältnisse in den Hafträumen“ „jedenfalls teilweise“ durch mehrstündige Aktivitäten außerhalb der Haftzelle kompensiert sieht. Für die Haftanstalt Rahova, für die die Aufschlusszeiten nicht mitgeteilt wurden, bleibt schon eine solche teilweise Kompensation – wie soeben aufgezeigt – offen. Sofern das Oberlandesgericht in Bezug auf die anderen mitgeteilten Haftanstalten von einer Kompensation durch Besuche und Telefonate sowie die Beschaffenheit der Hafträume und von ausreichenden hygienischen Bedingungen ausgeht, fehlt es diesbezüglich an einer eigenen Gefahrenprognose, um so die Belastbarkeit dieser Angaben einschätzen zu können. Eine ausreichende Tatsachengrundlage ist auch insoweit nicht gegeben.