Sehr unterschiedlich beurteilten Experten drei Anträge der Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die auf eine bessere soziale Absicherung von Selbstständigen zielen.
Aus hib – heute im bundestag Nr. 513 vom 20.04.2021 ergibt sich:
Das zeigte eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales unter der Leitung von Matthias W. Birkwald (Die Linke) am 20.04.2021. Zwar sah die Mehrheit der Sachverständigen insbesondere aufgrund der Corona-Pandemie deutlichen Handlungsbedarf, doch fand aufgrund teils erheblicher Detailkritik keiner der Oppositionsvorschläge uneingeschränkte Unterstützung.
Während die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag (BT-Drs. 19/24691 – PDF, 244 KB) eine Reform der Arbeitslosenversicherung fordert, in die Selbstständige obligatorisch einbezogen werden und deren Beitragsbemessung und Leistungen sich am tatsächlichen Einkommen orientieren sollen, will die FDP-Fraktion die freiwillige Versicherung in der Arbeitslosenversicherung für Selbstständige weiter öffnen. In die allgemeine Pflicht zur Altersvorsorge sollen Selbstständige mit einbezogen werden. Das „intransparente und langwierige“ Statusfeststellungsverfahren in der Rentenversicherung müsse allerdings reformiert werden, heißt es im Antrag der Liberalen. Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will das Statusfeststellungsverfahren transparenter gestalten und Selbstständige, die nicht anderweitig abgesichert sind, in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Den Zugang zur Arbeitslosenversicherung wollen die Grünen für alle Selbstständigen öffnen.
Horst Armbrüster von der Bundesagentur für Arbeit (BA) lehnte diese von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vertretene Forderung klar ab. Eine generelle Öffnung widerspreche Systematik und Grundkonzeption in mehrfacher Hinsicht. Die Forderung nach einer einkommensbezogenen Beitragsbemessung, wie sie die Linksfraktion erhebe, überfordere zudem die BA: Die Berechnung der Leistungen führe aufgrund der üblicherweise stark schwankenden Einkommen von Selbstständigen zu einem „enormen Aufwand“ und sei viel zu kompliziert, so der Experte.
Diese Einschätzung teilte auch Nicolas Keller vom Bund Deutscher Arbeitgeber (BDA): Er betonte, die bestehende Regelung, wonach Selbstständige die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung in der Arbeitslosenversicherung haben, sei „sachgerecht“. Eine weitergehende Öffnung befürworte der BDA nicht. Die Arbeitslosenversicherung müsse sonst entgegen ihrer eigentlichen Aufgabe die Haftung für gescheiterte Geschäftsmodelle und damit unternehmerische Risiken übernehmen. Und diese würden faktisch von den pflichtversicherten Arbeitnehmern und den Arbeitgebern getragen werden. „Das halten wir nicht für sinnvoll“, sagte Keller.
Evelyn Räder vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) hingegen begrüßte die Zielrichtung der drei Anträge: Auch der DGB sehe die Notwendigkeit, insbesondere die Solo-Selbstständigen besser in die sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen. Die Dringlichkeit dieses Anliegens sei in der Pandemie deutlicher denn je geworden. „Es besteht erheblicher politischer Handlungsbedarf“, sagte Räder. Es sei unverständlich, dass dieser Bedarf zwar von vielen Seiten anerkannt werde, sich dennoch wenig bewege, monierte die Expertin. Wie das eigentlich auf abhängig Beschäftigte zugeschnittene System so umgebaut werden könne, um auch Selbstständige miteinzubeziehen, müsse allerdings differenzierter betrachtet werden als in den Anträgen geschehen.
Reinhold Thiede von der Deutschen Rentenversicherung Bund, unterstützte die Vorschläge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen zu einer allgemeinen Pflicht zur Altersvorsorge auch für Selbstständige. Er verwies in seiner Stellungnahme auf den Alterssicherungsbericht 2020, wonach ehemals Selbstständige wesentlicher häufiger im Alter auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen seien. Die verpflichtende Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung biete gerade bei „hybrider Erwerbstätigkeit“, also einer abhängigen und einer selbstständigen Beschäftigung, den Vorteil einer durchgehenden Versicherung in nur einem System.
Veronika Mirschel von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di betonte, ihre Gewerkschaft setze sich seit langem für eine Pflichtversicherung auf Antrag für Selbstständige in der Arbeitslosenversicherung ein. Das „Misstrauen“, Selbstständige könnten sich in der sozialen Hängematte zulasten der Versichertengemeinschaft ausruhen, müsse abgeräumt werden, forderte die Expertin. Für Misstrauen gebe es keinen Anlass: „Selbstständige sind genauso ungern erwerbslos wie abhängig Beschäftigte.“ Auch zahlreiche Hürden im bisherigen System müssten abgebaut werden, um die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige attraktiver zu machen. So brauche es unter anderem eine Abkehr von pauschalierten Beiträgen: Stattdessen müssten sich Beitrag und Leistungen, wie von Grünen und Linke gefordert, am realen Einkommen bemessen. Zustimmung kam von Mirschel ebenso für die Linken-Forderung, Arbeitgeber an den Kosten zu beteiligen, um Selbstständige finanziell nicht zu überlasten.
Carlos Frischmuth, Bundesverband für selbstständige Wissensarbeit, riet hinsichtlich einer Altersvorsorgepflicht für Selbstständige zu einer Regelung mit Augenmaß: Es gebe sehr unterschiedliche Gruppen von Selbstständigen. Unter den Hochqualifizierten sorgten die meisten bereits umfassend für das Alter. Wie Andreas Lutz vom Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland begrüßte auch Frischmuth jedoch die Initiative von FDP und Grünen für eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens bei der Deutschen Rentenversicherung Bund. Dieses müsse „verlässlicher, transparenter und schneller“ werden, verlangte Frischmuth in seiner Stellungnahme. Lutz kritisierte insbesondere die Sanktionen als „unverhältnismäßig“. Die Sorge vor rechtlichen Konsequenzen habe dazu geführt, dass immer mehr Unternehmen keine Selbstständigen mehr beschäftigten.
Christian Mecke, als Einzelsachverständiger geladener Richter am Bundessozialgericht, wies solche Kritik am Statusfeststellungsverfahren zurück. Die von FDP und Grünen erhobenen Forderungen nach einer Reform basierten auf einer Reihe von „rechtlich und tatsächlich unzutreffenden Annahmen“. So könne von einer „breiten Verunsicherung bei Auftraggebern und Auftragnehmern“ nicht die Rede sein. In 99 Prozent der Fälle bereite die Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit keine Probleme. Die Zahl der Zweifelsfälle, bei denen die Clearingstelle der gesetzlichen Rentenversicherung zum Einsatz komme, sei „verschwindend gering“. Die Bearbeitungsdauer liege bei durchschnittlich 84 Tagen. Bei vollständig eingereichten Unterlagen und zügig beantworteten Nachfragen liege sie auch deutlich darunter.
Michel Wurdack vom Bundesverband Direktvertrieb meldete Zweifel an, ob es tatsächlich eine allgemeine Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen brauche. Drei Viertel der Selbstständigen bezögen Alterssicherungsleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Zwei Drittel, die nicht in diese einzahlten, verfügten über teils erhebliches Immobilien-, Geld- und Anlagevermögen. Angesichts der gestiegenen wirtschaftlichen Belastungen in der Pandemie räumte aber auch er eine „Notwendigkeit zur Altersvorsorge“ an. Für den Fall der Einführung einer Vorsorgepflicht sprach sich der Rechtsanwalt jedoch dafür aus, die Beiträge zur Krankenversicherung zu senken. Gerade für Selbständige, die in der Einstiegsphase wenig verdienten, würde sonst die Gesamtbelastung zu hoch.
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wies darauf hin, dass die Versorgungslücke, die die Pandemie bei vielen Selbständigen offengelegt habe, streng genommen nicht auf Arbeitslosigkeit, sondern auf „unvorhergesehenen, gravierenden Einkommensausfällen“ beruhe. Daher brauche es seiner Auffassung nach eher eine Art Kurzarbeitergeld, um diese Ausfälle abzufangen. Wenn Selbstständige trotzdem in die Arbeitslosenversicherung einbezogen werden sollten, müsse dies „so ähnlich wie möglich zu bestehenden Versicherungen und so spezifisch wie nötig“ geschehen, um der Situation von Selbstständigen gerecht zu werden.