Der Europäische Gerichtshof hat am 24.11.2020 zum Aktenzeichen C-59/19 entschieden, dass die Plattform Booking.com von einem Hotel, das sie nutzt, grundsätzlich vor einem Gericht des Mitgliedstaates, in dem das Hotel liegt, auf Unterlassung eines etwaigen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung verklagt werden kann.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 147/2020 vom 24.11.2020 ergibt sich:
Auch wenn die Verhaltensweisen, deren Unterlassung begehrt werde, im Rahmen eines Vertragsverhältnisses stattfänden, sei die besondere Zuständigkeitsregelung der Brüssel-Ia-Verordnung für Verfahren anwendbar, die eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sei, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung zum Gegenstand haben, so der EuGH.
Die Wikingerhof GmbH & Co. KG, eine Gesellschaft deutschen Rechts, die ein Hotel in Deutschland betreibt, schloss 2009 einen Vertrag mit der Booking.com BV, einer Gesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz in den Niederlanden, die eine Buchungsplattform für Unterkünfte betreibt. Dabei wurde ein von Booking.com vorgelegtes Vertragsformular verwendet, das u.a. folgende Klausel enthielt:
„Das Hotel erklärt, eine Kopie der Version 0208 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen … von Booking.com erhalten zu haben. Diese liegen online auf Booking.com vor … Das Hotel bestätigt, dass es die Bedingungen gelesen und verstanden hat und ihnen zustimmt. Die Bedingungen sind ein grundlegender Bestandteil dieses Vertrages …“.
In der Folge änderte Booking.com mehrfach ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die in ihrem Extranet einsehbar waren. Wikingerhof widersprach schriftlich der Einbeziehung einer neuen Version der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Booking.com am 25.06.2015 ihren Vertragspartnern bekannt gegeben hatte, in den fraglichen Vertrag. Wikingerhof war der Auffassung, dass sie wegen der beherrschenden Stellung von Booking.com auf dem Markt für Vermittlungsleistungen und für Buchungsportale für Unterkünfte keine andere Wahl gehabt habe, als den fraglichen Vertrag abzuschließen und den Auswirkungen der späteren Änderungen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Booking.com zu unterliegen, auch wenn bestimmte Praktiken von Booking.com unbillig seien und somit gegen das Wettbewerbsrecht verstießen.
Im Anschluss daran erhob Wikingerhof vor dem LG Kiel eine Klage, mit der sie beantragte, Booking.com zu verbieten, (i) auf der Buchungsplattform für Unterkünfte einen von Wikingerhof ausgewiesenen Preis ohne deren Einwilligung mit der Bezeichnung „vergünstigter Preis“ oder „rabattierter Preis“ zu versehen, (ii) ihr den Zugang zu den von ihren Vertragspartnern über die Plattform überlassenen Kontaktdaten vorzuenthalten, und (iii) die Platzierung des von ihr betriebenen Hotels bei Suchanfragen von der Gewährung einer 15% übersteigenden Provision abhängig zu machen.
Das LG Kiel erklärte sich für örtlich und international nicht zuständig. Dies hatte das OLG Schleswig in der Berufungsinstanz bestätigt. Nach dessen Ausführungen bestand keine Zuständigkeit der deutschen Gerichte gemäß der allgemeinen Regel der Verordnung Nr. 1215/2012 (Brüssel-Ia-Verordnung), da Booking.com ihren Sitz in den Niederlanden habe. Zudem seien im vorliegenden Fall weder die besondere Zuständigkeit des Erfüllungsorts der vertraglichen Verpflichtung nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 noch der deliktische Gerichtsstand am Ort des schädigenden Ereignisses nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung gegeben. Wikingerhof legte beim BGH Revision ein und trug vor, dass das Oberlandesgericht zu Unrecht für die fragliche Klage den deliktischen Gerichtsstand verneint habe.
Der BGH wiederum wandte sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und die Frage vorgelegt, ob Art. 7 Nr. 2 Verordnung Nr. 1215/2012 für eine Klage gilt, die auf die Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen im Rahmen einer Vertragsbeziehung zwischen dem Kläger und dem Beklagten gerichtet ist und die darauf gestützt wird, dass der Beklagte unter Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutze.
Der EuGH hat entschieden, dass vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen ist, dass die Klage von Wikingerhof, soweit sie auf die gesetzliche Verpflichtung gestützt ist, eine beherrschende Stellung nicht zu missbrauchen, eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung i.S.v. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 zum Gegenstand hat.
Für die Anwendbarkeit von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 einerseits oder von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung andererseits müsse das angerufene Gericht insbesondere die besonderen Voraussetzungen dieser Bestimmungen prüfen, so der EuGH. Somit sei es erforderlich, dass das angerufene Gericht, wenn sich ein Kläger auf eine dieser Vorschriften berufe, prüfe, ob die Ansprüche des Klägers – unabhängig von ihrer Einordnung nach nationalem Recht – im Sinne der Verordnung vertraglicher Art seien oder vielmehr eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sei, zum Gegenstand haben. Insbesondere habe das angerufene Gericht, um eine unter Vertragspartnern erhobene Klage als „vertraglich“ oder „deliktisch“ im Sinne der Verordnung Nr. 1215/2012 einzuordnen, zu prüfen, ob die Verpflichtung, die ihr als Grundlage diene, vertraglicher Art sei oder eine unerlaubte Handlung bzw. eine dieser gleichgestellte Handlung zum Gegenstand habe.
Eine Klage habe somit einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ i.S.v. Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 zum Gegenstand, wenn eine Auslegung des Vertrages zwischen dem Kläger und dem Beklagten unerlässlich erscheine, um zu klären, ob das Verhalten, das der Kläger dem Beklagten vorwerfe, rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich sei. Berufe sich der Kläger in seiner Klageschrift hingegen auf die Regeln über die Haftung aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sei, d.h. auf einen Verstoß gegen eine gesetzliche Verpflichtung, und erscheine es nicht unerlässlich, den Inhalt des mit dem Beklagten geschlossenen Vertrags zu prüfen, um zu beurteilen, ob das diesem vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder rechtswidrig sei, so bilden eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sei, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand der Klage i.S.v. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012.
Im vorliegenden Fall habe sich Wikingerhof in ihrer Klageschrift auf einen Verstoß gegen das deutsche Wettbewerbsrecht berufen, das den Missbrauch einer beherrschenden Stellung unabhängig von einem Vertrag oder einer anderen freiwillig eingegangenen Verpflichtung allgemein verbiete. Mithin bestehe die Rechtsfrage, die dem Ausgangsverfahren im Kern zugrunde liege, darin, ob Booking.com eine beherrschende Stellung im Sinne des genannten Wettbewerbsrechts missbraucht habe. Indessen sei es für die Feststellung, ob die Booking.com vorgeworfenen Praktiken nach diesem Wettbewerbsrecht rechtmäßig oder rechtswidrig seien, nicht unerlässlich, den Vertrag zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens auszulegen, da eine solche Auslegung allenfalls erforderlich sei, um das Vorliegen dieser Praktiken festzustellen.