Der Europäische Gerichtshof hat am 15.07.2021 zum Aktenzeichen C-30/20 erläutert hinsichtlich Kartellabsprachen über die Verkaufspreise von Lkw, welche Gerichte für die Entscheidung über Schadensersatzklagen zuständig sind.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 137/2021 vom 15.07.2021 ergibt sich:
Gibt es auf nationaler Ebene kein für diese Art von Klagen spezialisiertes Gericht, kann ein Unternehmen, das seine Käufe an verschiedenen Orten getätigt hat, dasjenige Gericht anrufen, in dessen Bezirk es seinen Sitz hat.
RH ist ein Unternehmen mit Sitz in Cordoba (Spanien) und erwarb dort zwischen 2004 und 2009 bei einem Vertragshändler der Volvo Group España (einer Gesellschaft mit Sitz in Madrid, Spanien) fünf Lastkraftwagen (im Folgenden: Lkw). Am 19. Juli 2016 erließ die Kommission einen Beschluss, mit dem sie das Vorliegen einer Kartellabsprache feststellte, an der zwischen dem 17. Januar 1997 und dem 18. Januar 2011 15 internationale Lkw-Hersteller beteiligt waren, zu denen auch Volvo (Schweden), Volvo Group Trucks Central Europe (Deutschland) und Volvo Lastvagnar (Schweden) gehörten. Betroffen waren zwei Arten von Produkten, nämlich Lkw zwischen 6 und 16 Tonnen sowie Lkw über 16 Tonnen, bei denen es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen handelte (Beschluss C(2016) 4673 final in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw) (ABl. 2017, C 108, S. 6). Die Kommission war der Auffassung, dass sich die Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV über den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erstreckt habe. Infolgedessen verhängte sie gegen alle beteiligten Unternehmen Geldbußen, mit Ausnahme eines Unternehmens, dem die Geldbuße infolge eines Kronzeugenverfahrens vollständig erlassen wurde.
RH erhob beim Juzgado de lo Mercantil no 2 de Madrid (Handels- und Konkursgericht Nr. 2 Madrid) Klage auf Zahlung von Schadensersatz gegen folgende Gesellschaften des Volvokonzerns: Volvo, Volvo Group Trucks Central Europe, Volvo Lastvagnar und Volvo Group España. Zur Begründung ihrer Klage trug RH vor, dass sie die fünf oben genannten Fahrzeuge zu einem überhöhten Preis gekauft habe, der auf die von der Kommission mit Sanktionen belegten Absprachen zurückzuführen sei, und dass ihr dadurch ein Schaden entstanden sei.
Die Gesellschaften des Volvokonzerns bestritten zwar nicht die örtliche Zuständigkeit des spanischen Gerichts, wohl aber dessen internationale Zuständigkeit, da nach ihrer Auffassung das schädigende Ereignis im Sinne der Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit (Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – ABl. 2012, L 351, S. 1) nicht an dem Ort des Sitzes der klagenden spanischen Gesellschaft, sondern an dem Ort eingetreten sei, an dem die Lkw-Kartellabsprache getroffen wurde, also in anderen Mitgliedstaaten.
Das spanische Gericht hat Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung. Nach seiner Auffassung ist nämlich zu klären, ob diese Bestimmung lediglich eine Regel für die internationale Zuständigkeit enthält oder ob es sich um eine doppelte oder gemischte Vorschrift handelt, die gleichzeitig die nationale örtliche Zuständigkeit regelt.
In seinem heutigen Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass für eine Klage auf Ersatz eines Schadens, der durch gegen Art. 101 AEUV verstoßende Absprachen über Preise und Preiserhöhungen für Gegenstände verursacht worden ist, innerhalb des von diesen Absprachen betroffenen Marktes international und örtlich unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs entweder dasjenige Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk das Unternehmen, das sich für geschädigt erachtet, die von den genannten Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft hat, oder – wenn das betroffene Unternehmen die Gegenstände an mehreren Orten gekauft hat – dasjenige Gericht, in dessen Bezirk sich der Sitz dieses Unternehmens befindet.
Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass mit dem Ausdruck „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ im Sinne von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs als auch der Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens gemeint ist, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die dem geltend gemachten Schaden zugrunde liegende Zuwiderhandlung sich auf den gesamten EWR-Markt erstreckt und dort zu einer Wettbewerbsverzerrung geführt hat. Der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs liegt also in diesem Markt, zu dem Spanien gehört.
Sodann betont der Gerichtshof, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung dem Gericht desjenigen Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist, direkt und unmittelbar sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit zuweist. Allerdings fällt die Festlegung des Gerichtsbezirks, in dem sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs befindet, grundsätzlich unter die organisatorischen Befugnisse des Mitgliedstaats, zu dem dieses Gericht gehört; dieser Mitgliedstaat kann Zuständigkeiten – etwa im Interesse einer geordneten Rechtspflege – vor einem einzigen spezialisierten Gericht bündeln.
Fehlt es an einem solchen spezialisierten Gericht, so muss der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs zur Ermittlung desjenigen Gerichts, das in den Mitgliedstaaten für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage zuständig ist, im Einklang mit den Zielen der Nähe und der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln sowie der geordneten Rechtspflege bestimmt werden. Der Gerichtshof grenzt insoweit zwei Fallgestaltungen voneinander ab.
Erstens ist, wenn der geschädigte Käufer in nur einem einzigen Gerichtsbezirk Gegenstände gekauft hat, die von den in Rede stehenden Kartellabsprachen betroffen sind, das Gericht dieses Bezirks zuständig.
Zweitens kann das geschädigte Unternehmen, wenn die Gegenstände an mehreren Orten gekauft wurden, unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs das Gericht des Ortes anrufen, an dem es seinen Sitz hat. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Zuweisung mit dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit in Einklang steht, weil den Beklagten, die Mitglieder des Kartells sind, nicht unbekannt sein kann, dass die Käufer der fraglichen Gegenstände im von den Kartellpraktiken betroffenen Markt ansässig sind. Zudem trägt dies auch dem Ziel der räumlichen Nähe Rechnung, und der Ort, an dem das geschädigte Unternehmen seinen Sitz hat, bietet alle Garantien für die sachgerechte Gestaltung eines eventuellen Prozesses.