Der Europäische Gerichtshof hat am 24.03.2021 zum Aktenzeichen C-603/20 PPU entschieden, dass die Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts, das mit einem die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag befasst ist, im Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat nicht auf der Grundlage von Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung ermittelt werden kann.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 46/2021 vom 24.03.2021 ergibt sich:
Wird festgestellt, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nunmehr in einem Drittstaat hat, muss die gerichtliche Zuständigkeit gemäß den anwendbaren internationalen Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen Übereinkommens, gemäß Art. 14 der Brüssel-IIa-Verordnung ermittelt werden.
SS und MCP sind die Eltern von P, einer 2017 geborenen britischen Staatsbürgerin. Sie besitzen beide die indische Staatsangehörigkeit und verfügen über eine Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich. Das Paar ist nicht rechtsgültig verheiratet, übt aber gemeinsam die elterliche Verantwortung aus. Im Oktober 2018 begab sich die Mutter mit dem Kind in ihr Heimatland. Das Kind lebt seitdem dort bei seiner Großmutter mütterlicherseits und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt somit nicht mehr im Vereinigten Königreich. Aus diesem Grund macht die Mutter die Unzuständigkeit der Gerichte von England und Wales geltend, die mit einem Antrag des Vaters befasst sind, der im Rahmen einer Klage beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen) die Rückgabe des Kindes in das Vereinigte Königreich sowie ein Umgangsrecht begehrt.
Dieses Gericht ist der Auffassung, seine Zuständigkeit sei nach der Brüssel-IIa-Verordnung Nr. 2201/2003 (ABl. 2003, L 338, 1) zu beurteilen. Insoweit macht es folgende Angaben: Zum Zeitpunkt seiner Anrufung durch den Vater habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Indien gehabt und sei vollständig in ein sozio-familiäres indisches Umfeld integriert gewesen, während, abgesehen von der Staatsbürgerschaft, keine konkreten tatsächlichen Bindungen zum Vereinigten Königreich bestanden hätten. Auch habe die Mutter zu keinem Zeitpunkt auf eindeutige Weise anerkannt, dass die Gerichte von England und Wales für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für P zuständig seien.
Der High Court of Justice führt weiter aus, dass die Zuständigkeitsregeln für den Fall des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes in der Brüssel-IIa-Verordnung festgelegt seien. Es sei jedoch insbesondere fraglich, ob diese Regeln auf einen Zuständigkeitskonflikt zwischen den Gerichten eines Mitgliedstaats und denen eines Drittstaats anwendbar seien. Daher fragt der High Court of Justice den Gerichtshof, ob die Brüssel-IIa-Verordnung dahin auszulegen ist, dass im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben.
Mit seinem heute verkündeten Urteil stellt der Gerichtshof als Erstes fest, dass die Kriterien, auf die in Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung hinsichtlich der Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung abgestellt wird, einen Sachverhalt erfassen, der auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschränkt bleibt. Diese Vorschrift bezieht sich nicht auf den Fall eines im Hoheitsgebiet eines Drittstaats erlangten Aufenthalts und regelt somit keine Fragen der Zuständigkeit bei Kindesentführungen in einen Drittstaat.
Als Zweites hebt der Gerichtshof hervor, dass der Unionsgesetzgeber zwar eine strenge Regelung in Bezug auf Kindesentführungen innerhalb der Union einführen wollte, aber nicht die Absicht hatte, diese Regelung auf Kindesentführungen in einen Drittstaat zu erstrecken. Vielmehr sollten solche Entführungen insbesondere von internationalen Übereinkommen wie dem Haager Übereinkommen von 1996 über die elterliche Verantwortung und den Schutz von Kindern (Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern – ABl. 2008, L 151, S. 39) erfasst werden. Unter bestimmten Voraussetzungen (wie der Genehmigung oder der Passivität eines der Sorgeberechtigten) sieht dieses Übereinkommen einen Zuständigkeitsübergang auf die Gerichte des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass dieser Zuständigkeitsübergang niemals eintreten könnte, wenn die Gerichte eines Mitgliedstaats zeitlich unbegrenzt zuständig blieben.
Als Drittes stellt der Gerichtshof fest, dass eine zeitlich unbegrenzte Fortdauer der Zuständigkeit nicht mit einem der grundlegenden Ziele der Brüssel-IIa-Verordnung in Einklang stünde, nämlich dem Wohl des Kindes zu entsprechen, indem zu diesem Zweck dem Kriterium der räumlichen Nähe Vorrang eingeräumt wird. Ist ein Kind in einen Drittstaat entführt worden, in dem es infolge dieser Entführung einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, muss das mitgliedstaatliche Gericht, das mit einem die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag befasst ist und feststellt, dass es seine Zuständigkeit nicht auf die Brüssel-IIa-Verordnung stützen kann, seine Zuständigkeit auf der Grundlage bi- oder multilateraler internationaler Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen Übereinkommens, auf der Grundlage seines nationalen Rechts ermitteln (Art. 14 der Brüssel-IIa-Verordnung).
Der Gerichtshof gelangt zu dem Schluss, dass Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, nicht anwendbar ist.