Das Bundesverfassungsgericht hat am 03.04.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1838/15 entschieden, dass die staatlichen Gerichte bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, selbst zu der vollen Überzeugung gelangen müssen, dass einem Asylbewerber wegen Konversion zum Christentum in seinem Heimatland eine Verfolgung wegen seiner Religion droht und dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 39/2020 vom 22.05.2020 ergibt sich:
Es dürfe allerdings keine formale oder inhaltliche „Glaubensprüfung“ durch die Gerichte erfolgen, so das BVerfG.
Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger. Er stellte 2011 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ablehnte, weil der Beschwerdeführer eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe. Während des sich anschließenden Klageverfahrens trug der Beschwerdeführer ergänzend vor, dass er im Mai 2013 getauft worden sei und regelmäßig an kirchlichen Veranstaltungen in der Gemeinde teilnehme. Dies begründe für den Fall einer Abschiebung in den Iran die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung.
Der Verwaltungsgerichtshof wies die Klage ab. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr in den Iran keine Verfolgung aus religiösen Gründen. Die Anhörung habe den Senat nicht von einer die religiöse Identität prägenden Hinwendung des Beschwerdeführers zur christlichen Religion überzeugen können. Er habe nicht in substantieller Weise seine Beweggründe aufzeigen können, die ihn ausgerechnet zum christlichen Glauben geführt hätten. Ein Taufkurs, der die christlichen Glaubensgrundlagen auch nur grob vermittelt oder vertieft hätte, habe nicht stattgefunden. Zwar habe der Beschwerdeführer sich ein gewisses Grundwissen über das Christentum angeeignet. Es hätten sich aber auch hier nicht unerhebliche Lücken gezeigt. Auch wenn er christliche Glaubensinhalte richtig wiedergegeben habe, habe der Senat nicht den Eindruck gewonnen, der Beschwerdeführer habe sich über das „Erlernen“ christlicher Glaubensinhalte hinaus intensiv mit dem Glauben beschäftigt und diesen als für sein weiteres Leben identitätsprägend verinnerlicht. Es dränge sich angesichts der sozialen Unterstützung durch die Pfarrerin und die iranische Kirchengemeinde der Eindruck auf, dass der Beschwerdeführer sich dem Christentum vornehmlich aus sozialen und integrativen Gründen angeschlossen habe. Das BVerwG wies die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurück.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Nach Auffassung des BVerfG sind die Maßstäbe, die das BVerwG für die Prüfung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Religion besteht, entwickelt und in dem angegriffenen Beschluss bestätigt hat, von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Zwar dürften die Gültigkeit eines Übertritts zu einer Religionsgemeinschaft und das religiöse Selbstverständnis einer solchen Gemeinschaft nicht in Frage gestellt werden. Die Gerichte müssten jedoch die innere Tatsache, dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung habe, zu ihrer vollen Überzeugung feststellen. Diese fachgerichtliche Prüfung verletze weder das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Bei der Frage, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine hinreichend schwere Verfolgungshandlung im Sinne des Asylgesetzes darstellt, ist in einem ersten Schritt in objektiver Hinsicht festzustellen, welche Maßnahmen und Sanktionen gegenüber dem Betroffenen im Herkunftsstaat voraussichtlich ergriffen werden, wenn er eine bestimmte Glaubenspraxis dort ausübt, und wie gravierend diese sein werden. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn ihm durch die Betätigung seines Glaubens – im privaten oder öffentlichen Bereich – die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dabei kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Sodann ist in einem zweiten Schritt in subjektiver Hinsicht festzustellen, ob die Befolgung einer solchermaßen als verfolgungsträchtig bestimmten Glaubenspraxis ein zentrales Element für die religiöse Identität des Schutzsuchenden und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist. Maßgeblich ist dabei, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität gehört. Beide Prüfungsschritte unterliegen der eigenständigen tatrichterlichen Würdigung der Verwaltungsgerichte. Die innere Tatsache, dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat, muss zur Überzeugung der Gerichte feststehen.
Diese fachgerichtliche Prüfung im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingsanerkennung verletzt weder das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen. Die Prüfungsbefugnis der Gerichte unterliegt jedoch Grenzen:
Die Wirksamkeit einer nach Angaben der betroffenen Glaubensgemeinschaft gültig vollzogenen Taufe und damit die Mitgliedschaft des Schutzsuchenden in dieser Glaubensgemeinschaft darf von den Verwaltungsgerichten nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr haben diese die Kirchenmitgliedschaft als Rechtstatsache zu beachten und der flüchtlingsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legen, selbst wenn Anhaltspunkte für eine mitbestimmende taktische Prägung des Übertritts zu einem Glauben oder gar für eine Missbräuchlichkeit der Konversion bestehen; derartigen Anhaltspunkten kann allerdings im Rahmen der Verfolgungsprognose Rechnung getragen werden.
Staatlichen Behörden und Gerichten ist es zudem verwehrt, eine inhaltliche „Glaubensprüfung“ vorzunehmen; sie dürfen insbesondere nicht ihre eigene Wertung zu Inhalt und Bedeutung eines Glaubenssatzes, zu seiner Stellung im Gefüge der jeweiligen Religion oder zur Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen und der Art und Weise ihrer Bekundung an die Stelle derjenigen des Einzelnen oder der Kirche oder Glaubensgemeinschaft setzen.
Von der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und dem Inhalt und der Bedeutung von Glaubenssätzen zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob und bejahendenfalls welche Aspekte einer Glaubensüberzeugung oder Glaubensbetätigung in einer die Furcht vor Verfolgung begründenden Intensität für die religiöse Identität des individuellen Schutzsuchenden prägend sind oder nicht. Auch wenn sich die Annahme verbietet, ohne ein „Mindestwissen“ über einen Glauben könne eine prägende Glaubensüberzeugung nicht vorliegen, kann die Vertrautheit des Schutzsuchenden mit den Lehraussagen einer Religionsgemeinschaft ein Indiz für die identitätsprägende Bedeutung der Konversion zu dieser Religion sein. Denn bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem Asylgesetz vorliegen, handelt es sich nicht um eine eigene Angelegenheit der Kirchen oder Religionsgemeinschaften. Die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft fällt nicht in den der Erfüllung des religiösen Auftrags und der religiösen Sendung dienenden Bereich, sondern ist kraft Gesetzes ausschließlich der Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und – im Fall einer gerichtlichen Überprüfung – den Verwaltungsgerichten zugewiesen.