Gerichte dürfen sich im Arzthaftungsstreit nicht auf Wortlaut versteifen

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 12.11.2024 zum Aktenzeichen VI ZR 361/23 entschieden, dass sich Gerichte im Arzthaftungsrechtsstreit nicht auf den Wortlaut versteifen dürfen.

Im Fall handelt es sich um eine schwangere Frau, deren errechneter Geburtstermin um eine Woche überschritten war und die sich zunächst gegen die von der Klinik empfohlene Einleitung der Geburt entschied. Erst nach elf Tagen stimmte sie schließlich zu, als das Baby immer noch nicht auf der Welt war. Während des Kaiserschnitts stellten die Ärzte fest, dass die Betäubung nicht wirkte und das Kind dennoch per Notkaiserschnitt geholt werden musste. Erst nach Umstellung der Narkose konnte der Kaiserschnitt erfolgreich durchgeführt werden und das Baby gesund zur Welt gebracht werden.

Das Landgericht Erfurt wies zunächst die Klage auf Schadensersatz ab, jedoch entschied das Oberlandesgericht Jena später anders und wies die Berufung zurück. Einerseits konnte der vermeintliche Fehler in der Dosierung der Narkose von den Ärzten nicht bemerkt werden, da die Wirkung ordnungsgemäß durch einen Kneiftest überprüft wurde, auf den die Patientin nicht reagierte. Andererseits wurde die neue Rüge der klagenden Frau als verspätet angesehen, da in der ersten Instanz ein anderer Sachverhalt vorlag.

In erster Instanz beklagte sich die Frau über mangelnde Aufklärung bezüglich der Einleitung der Geburt, da ihr nicht mitgeteilt wurde, dass diese Maßnahme das Risiko eines Kaiserschnitts nicht erhöht. In der Berufung argumentierte sie jedoch, dass sie ihre Ablehnung einer Einleitung aufgegeben hätte, wenn sie über das verringerte Risiko eines Kaiserschnitts informiert worden wäre. Das OLG sah darin einen Widerspruch und wies die Berufung der Klägerin zurück.

Das Oberlandesgericht Jena wurde vom Bundesgerichtshof kritisiert, da es den Behandlungsfehler nicht allein aufgrund des ordnungsgemäß durchgeführten Kneiftests verneint hat. Dadurch wurde das Gericht beschuldigt, das wesentliche Argument der Frau nicht angemessen berücksichtigt zu haben. Gemäß dem Recht auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes war das Gericht jedoch verpflichtet, alle Argumente der Frau in Betracht zu ziehen. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass das Gericht die separaten Behandlungsfehler, nämlich die zu niedrig dosierte Narkose und die fehlerhafte Überprüfung ihrer Wirkung, nicht angemessen berücksichtigt hat. Ein ordnungsgemäß durchgeführter Kneiftest allein sagt nichts über die Ursächlichkeit der unterstellten falschen Narkotisierung aus. Daher wurde das OLG kritisiert, den Vortrag der Frau nicht ausreichend in seine Entscheidung einbezogen zu haben.

Was die angebliche Verspätung betrifft, stellte der Bundesgerichtshof fest, dass es sich nicht um einen neuen Vortrag handelt, da die Frau im Wesentlichen bereits vor dem Landgericht Erfurt dieselben Argumente vorgebracht hatte. In beiden Fällen wurde die oberste Gerichtsebene daher beschuldigt, das Recht auf rechtliches Gehör verletzt zu haben, indem sie die Argumente der Frauen vorschnell als verspätet abgewiesen haben. Die Fälle wurden an die jeweiligen Berufungsgerichte zurückverwiesen, die nun erneut über sie entscheiden müssen.